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Das deutsch-amerikanische Verhältnis: Die Bedeutung visionären Denkens

Ansprache des Botschafters der Vereinigten Staaten von Amerika Richard R. Burt anläßlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der ‚Rede der Hoffnung' von Außenminister James F. Byrnes im Großen Haus des Württembergischen Staatstheaters in Stuttgart am
6. September, 1986

 

In den letzten beiden Jahren haben wir viele 40. Jahrestage bedeutender Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg begangen. Die meisten dieser Anlässe waren dem Gedenken an wichtige Schlachten oder militärische Siege gewidmet. Obwohl diese epochalen Ereignisse letztendlich zu Hitlers Niederlage führten, forderten sie doch auch einen tragischen Preis an Menschenleben. In Europa, wie in den Vereinigten Staaten wecken sie immer noch bittere Erinnerungen an schreckliche Bilder.

Der heutige Tag symbolisiert den Beginn einer hoffnungsvolleren Reihe 40. Jahrestage. In der Zukunft werden wir "positive" Jahrestage begehen können - Gedenkfeiern zu Ereignissen und Beschlüssen, die das Fundament unserer Nachkriegswelt legten.

Die vielleicht bedeutendste Leistung der Nachkriegszeit bestand in der Entstehung eines neuen und demokratischen Deutschland. Die Bundesrepublik repräsentiert die besten Traditionen der westlichen Kulter. Sie hat in Zusammenarbeit mit der atlantischen Gemeinschaft dabei mitgewirkt, unseren Völkern mehr Freiheit und Stabilität zu geben, als dies jemals in der jüngeren Vergangenheit der Fall gewesen ist.

Es ist bemerkenswert, daß so viele der Grundlagen dieser Gemeinschaft in den ersten beiden Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt wurden. Oft waren sie das Ergebnis amerikanischer Initiativen, wie etwa des Marschall-Plans. Andere ebenso historische Leistungen waren das Produkt des Mutes und die Kreativität des deutschen Volkes.

Die Berliner Kommunalwahl vom 20. Oktober 1946 ist dafür ein Beispiel. Trotz sowjetischen Zwangs statteten die Beriiner die demokratischen Parteien mit einer überwältigenden Mehrheit aus und fügten den Kommunisten eine nachdrückliche Niederlage zu. Es ist eine tragische Tatsache, daß dies nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige freie Wahl blieb, an der alle Berliner sich beteiligen konnten. Aber es war das erste Mal von vielen, daß die Bevölkerung von Berlin freiheitsliebenden Völkern in der ganzen Welt Hoffnung gab.

Eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung Deutschlands in diesen frühen Jahren spielten die deutschen Universitäten. In der amerikanischen Zone wurden sechs der sieben Vorkriegsuniversitäten Anfang 1946 wieder eröffnet. Zehntausende heimkehrender Soldaten fanden durch ein Universitätsstudium den Weg zu einem neuen Leben.

Einer der frühesten und sicherlich einer den wichtigsten Schritte zum Aufbau dieses neuen Deutschland wurde vor genau vierzig Jahren hier in dieser großartigen Stadt Stuttgart getan. Dieses Ereignis war eine Rede des amerikanischen Außenministers James Byrnes.

Ich bin Ministerpräsident Späth und Oberbürgermeister Rommel dankbar für die Gelegenheit, an diesem Jahrestag hier zu sprechen. Ich fühle mich besonders durch die Tatsache geehrt, Bundesaußenminister Genscher, der hier zum 20. Jahrestag der Byrnes-Rede eine hervorragende Ansprache zur politischen Rolle Deutschlands gehalten hat, heute hier unter uns weilen kann, da wir ihren 40. Jahrestag begehen. Ich bin außerdem hoch erfreut über die Anwesenheit von General Dick Lawsen, einer der hervorragendsten militärischen Persönlichkeiten Amerikas.

Ich möchte versuchen, die Ansicht eines Amerikaners zum Hintergrund und zu den Folgen dieser Rede beizutragen. Und, wichtiger noch, ich möchte versuchen darzustellen, wie meiner Meinung nach die von James Byrnes formulierten Ideen uns in die Zukunft leiten können.
Um die Bedeutung dieser Rede vollständig zu würdigen, müssen wir uns die Lage Europas an diesem 6. September 1946 vor Augen führen.

Außenminister Byrnes hatte sich drei Monate lang fast ständig mit seinen britischen, französischen und sowjetischen Kollegen in Paris getroffen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Gestalt des Nachkriegseuropa zu bestimmen. Wie der Minister in seinen Memoiren selbst schrieb, bestand die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe in der Zukunft Deutschlands.

Nun war Deutschland in vier Besatzungszonen geteilt. Berlin wurde von den vier Mächten separat verwaltet. Trotz der währen der letzten Kriegsmonate erzielten Vereinbarungen hatte es keine Fortschritte bei der Überwindung sowjetischer Vorbehalte gegen den Aufbau einer zentralen Verwaltung gegeben.

Diese Verzögerung hatte eine immense Wirkung auf die deutsche Bevölkerung. Die Sowjetunion blockierte Nahrungsmittellieferungen von ihrer Zone ins übrige Deutschland. Sie verlangte eine Vereinbarung über ein weitreichendes Reparationsprogramm, einschließlich der Viermächtekontrolle über das Ruhrgebiet, als Vorbedingung für die Lieferung von Nahrungsmitteln.

In den Westzonen existierten die meisten Bewohner von 1 000 Kalorien pro Tag. Dies ist weniger als das zum Überleben notwendige Minimum. Amerika gab 200 Millionen Dollar jährlich aus, um die deutsche Bevölkerng verpflegen zu helfen. Die CARE-Lieferungen begannen im August 1946 - ein weiterer bedeutender vierzigster Jahrestag, den wir dieses Jahr begehen.

Der ursprüngliche amerikanische Plan für Deutschland hatte in der Errichtung eines wiedervereinigten, entmilitarisierten Staates bestanden. Der entmilitarisierte Status sollte dabei von den vier Siegermächten garantiert werden. Im April 1946 schlug Außenminister Byres die Einführung einer Viermächtekommission zur Ausarbeitung eines Friedensvertrages vor, der auf diesen Prinzipien beruhen sollte. Großbritannien und Frankreich stimmten zu. Der sowjetische Außenminister Molotov lehnte es ab, über den Vorschlag überhaupt zu reden.

Die sowjetischen Vorschläge hinsichtltch Deutschlands waren in einer Rede enthalten, die Molotow am 10. Juli 1946 im Rahmen der Pariser Konferenz hielt. Der sowietische Außenminister behauptete, die USSR unterstütze ein vereintes Deutschland mit einer starken industriellen Basis. Es gab jedoch sowjetische Vorbedingungen, insbesondere eine befriedigende Zahlung von Reparationen. Am ominösesten war Molotovs Argumentation, wonach der Abschluß eines Friedensvertrages 'für einige Jahre' vertagt werden müsse.

In einigen wenigen entscheidenden Monaten trat somit der Umriß der Nachkriegsentwicklung klar zutage. Man konnte beobachten, wie die ersten Anzeichen des großen Ringens um Herz und Seele Europas, das später den ganzen Kontinent erfaßte, sich entfalteten. Minister Byrnes brachte klar zum Ausdruck, wie Amerika beim Aufbau der Nachkriegswelt helfen wollte. Das sowjetische Verhalten enthüllte eine zielbewußte Kampage zur Kontrolle, die Deutschland und Europa bis auf den heutigen Tag in Teilung verharren läßt.

Die sowjetischen Vertreter lehnten es ab, über eine zentrale Verwaltung Deutschlands überhaupt zu diskutieren. Sie verlangten umfassende Reparationen und verwehrten dem deutschen Volk das Recht auf Selbstbestimmung. Sie stellten öffentlich und in vertraulichen Gesprächen klar, daß ein Friedensvertrag so lange aufgeschoben würde, bis nicht genau definierte Vorbedingeungen, einschließlich der Zahlung von Reparationen erfüllt seien.


In seinen Memoiren beschrieb Minister Byrnes seine Reaktion auf Molotows Rede folgendermaßen:

Mit dieser Erklärung wurden unsere Befürchtungen bestätigt, wonach die Sowjetunion, wenn sie nicht durch die Weltmeinung dazu gezwungen würde, in den kommenden Jahren einen Friedensvertrag mit Deutschland nicht zustimmen würde. Sie würde ihr Vetorecht im Alliierten Kontrollrat sowie im Rat der Außenminister dazu benutzen, um die Annahme ihres Konzepts einer 'demokratischen' Regierung zu sichern; um eine teilweise Kontrolle über die deutsche Industrie zu sichern... und die Zahlung von Reparationen in Höhe von 10 Milliarden Dolllar durchzusetzen.

Einen Tag nach Molotows Rede, am 11. Juli 1946, kündigten die britischen und amerikanischen Behörden die Vereinigung ihrer Zonen zur sogenannten Bizone an. Frankreich schloß sich ihnen später an. Dieser Schritt wurde von der Sowjetunion als Anfang der Teilung Deutschlands verurteilt. In Wirklichkeit zielte die sowjetische Politik darauf ab, Deutschland und seine Bevölkerung als Geisein zu halten. In zynischer Weise sollten eine ausreichende Ernährung und der wirtschaftliche Wiederaufbau hinausgeschoben werden, bis die politischen Forderungen der Sowjets erfüllt waren. Der Prozeß des Wiederaufbaus in den westlichen Zonen konnte nur beginnen, wenn diese selbst den ersten Schritt taten.

Der Minister hatte ursprünglich beschlossen, eine Erklärung zur amerikanischen Politik solange aufzuschieben, bis der Rat der Außenminister sich über die Zukunft Deutschlands im klaren war. Die Molotov-Rede veranlaßte ihn, seine Meinung zu ändern.

Byrnes entschloß sich, seine Ansprache in Stuttgart, dem Sitz des Länderrats der Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone, zu halten.

Die amerikanischen Behörden hatten schon im Januar 1946 die ersten Kommunalwahlen organisiert. Der Länderrat bildete das sichtbarste Ergebnis der amerikanischen Bemühungen um den Aufbau einer demokratischen Regierung in Deutschland.

Der Minister reiste nach Stuttgart von Berlin aus, wo er sich mit General Clay beraten hatte. Er beschloß, die Reise im Zug zurückzulegen, damit er sich aus erster Hand einen Eindruck von der völligen Verwüstung Deutschlands machen konnte. Während seiner Reise traf er auf viele amerikanische Soldaten.

Nach seiner Ankunft in Stuttgart hielt Minister Byres ein Treffen mit dem Länderrat ab. Dann begab er sich in das Württembergische Staatstheater, das zu jener Zeit der einzige noch intakte größere Versammlungsort in Stuttgart war. Die Atmosphäre dieses Tages wurde mir von Professor William Griffith beschrieben, einem der großen amerikanschen Deutschland-Kenner, der jetzt in Bonn zu meinen Mitarbeitern gehört. Im Jahr 1946 war er als junger Offizier bei den Besatzungsbehörden in München.

Professor Griffith erinnert sich, wie er mit einem Gefühl der Erwartung nach Stuttgart reiste. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Besatzungsmächten waren weithin bekannt. Er und seine Kollegen wußten nicht, was die Rede enthalten würde. Wahrscheinlich hat es einige Zeit gedauert, bis die meisten der Zuhörer sich darüber klar wurden, was für einen Wendepunkt sie darstellte.

Zusätzlich zu den militärischen Vertretern saßen zwei Senatoren neben Byrnes auf dem Podium - Senator Vandenburg aus Michigan, ein Republikaner, und Senator Tom Connolly aus Texas, ein Demokrat -, um den starken überparteilichen Konsens hinsichtlich seiner Politik zu unterstreichen. Beide spielten in der Folgezeit eine bedeutende Rolle bei der Sicherung der Zustimmung zu solch wichtigen Initiativen wie den Marshall-Plan und der NATO. Der Minister wurde von einer amerikanischen Militärkapelle eingeführt. Als er sich zum Podium begab, spielte die Kapelle den bekannten Schlager 'Stormy Weather.'

Das Ziel von Byrnes bestand jedoch darin, Stürme zu vermeiden. In dieser historischen Ansprache ging er hinsichtlich der amerikanischen Politik in Europa zwei Verpflichtungen ein:

- Erstens: Amerika würde nicht den Fehler des Ersten Weltkriegs wiederholen. "Wir haben gelernt," so erklärte er, "...daß wir in einer Welt leben, von der wir uns nicht isolieren können. Wir haben gelernt, daß Frieden und Wohlergehen unteilbar sind und daß Frieden und Wohlergehen nicht auf Kosten des Friedens und Wohlergehens eines anderen Volkes erkauft werden können."

- Zweitens: Amerika beabsichtigt nicht, ein besiegtes Deutschland hart zu behandeln. Minister Byrnes beendete seine Rede mit der folgenden Ankündigung: "Das amerikanische Volk will dem deutshen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt.

Selbst Reden eines Außenministers können die Welt nicht über Nacht verändern. Doch wie die zwei Senatoren, die Byrnes begleiteten, demonstrierten, sprach der Minister nicht für sich alleine. Diese historische Ansprache enthielt eine Verpflichtung des gesamten amerikanischen Volkes, sich weiterhin in der Welt zu engagieren. Sie reflektierte außerdem die in Amerika noch immer bestehende große Sympathie für das deutsche Volk. Schon im Jahr 1946 waren wir entschlossen, Deutschland und Europa auf den Weg der Freiheit und des Wohlstandes zurückzuführen.

Außenminister Byrnes Rede war jedoch aus einern anderen Grund bemerkenswert. Betrachtet man das Ausmaß der Zerstörung und des Leides im Deutschland des Jahres 1946, dann muß der Plan des Ministers zur Schaffung eines wohlhabenden und demokratischen Deutschland vielen der damaligen Zuhörer unrealistisch - ja, sogar utopisch - erschienen sein. Fachleute sagten zu jener Zeit voraus, daß Deutschland Jahrzehnte benötigen würde, um bei der Industrieproduktion wieder des Vorkriegsniveau zu erreichen. Die Wiederherstellung der Wirtschaft erschien ein ferner, vielleicht unerreichbarer Traum.

Die Fachleute hatten jedoch das außer Acht gelassen, was Byrnes verstanden hatte - die Kraft visionären Denkens. Sie vergaßen, daß selbst die außergewöhlichsten Aufgaben verwirklicht werden können, wenn den Menschen seine Phantasie beflügelt.

Heute, da wir uns wieder in einem Zeitalter des Wandels befinden, ist die Erinnnerung an die Vision von Minister Byrnes und Menschen wie ihm von ganz besonderer Bedeutung. Viele junge Leute scheinen zu glauben, daß die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg einer Zwangsläufigkeit unterliegen. Die Führungsrolle Amerikas in der Nachkriegszeit, zum Beispiel, wird in Deutschland heute als zwangsläufige Entwicklung dargestellt.

In Wirklichkeit waren sich viele Amerikaner in der Nachkriegszeit nicht über ihre
Rolle im klaren. Innerhalb der Truman-Administration gab es erhebliche Diskussionen über die Behandlung Deutschlands sowie darüber, ob man sich weiterhin in Europa engagieren sollte. Im Jahr 1946, wie auch heute, denken Amerikaner nicht in Kategorien wie Einflußsphären oder Gleichgewicht der Kräfte. Wir wollten Europa zur Normalität zurückführen und dann nach Hause gehen.

Die amerikanische Abkehr vom Isolationismus war kein leichter Schritt. Sie wurde durch Mut und Entschlossenheit der politisch Verantwortlichen in beiden großen Parteien bewirkt. Die Rede von Außenminister Byrnes war genauso dazu bestimmt, das amerikanische Volk vor den Gefahren des Isolationismus zu warnen wie dazu, das deutsche Volk von unserer Politik der Versöhnung und des Heilens in Kenntnis zu setzen.

Die westliche Welt hatte deshalb Glück in jenen Jahren. Wir wurden von Persönlichkeiten mit Vorstellungskraft und Mut regiert. Sie ließen sich von der Zerstörung und der Unordnung nicht entmutigen. Statt dessen betrachteten sie die Nachwirkungen des Krieges als eine Gelegenheit zur Schaffung einer neuen Welt - einer Welt, aus der die Bedingungen, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hatten, für immer verbannt waren.

In den folgenden zehn Jahten entwickelte sich unsere westliche Partnerschaft rasch. Träume wie der Marshall-Plan, die Montan-Union, der IWF und die Weltbank sowie die OECD wurden bald zur Realität. Mit amerikanischer Unterstützung trugen die führenden Politiker aller großen Parteien Deutschlands zur Schaffung der wohlhabenden und demokratischen Bundesrepublik bei, die Minister Byrnes in seiner Rede prophezeit hatte.

Natürlich ist das deutsche Wirtschaftswunder wohl bekannt. Das politische und gesellschaftliche Wunder, das gleichzeitig stattfand, wird weniger gewürdigt. Im Jahr 1945 war den demokratischen Wurzeln, die in Deutschland gewachsen waren, in zwölf Jahren der Diktatur der Nährboden entzogen gewesen. Die Nation lag gebrochen und besiegt am Boden. Ihre politischen lnstitutionen waren zerstört und diskreditiert.

Der Aufbau der Demokratie war unter den Bedingungen, die in den Nachkriegsjahren existierten, nicht leicht. Sie wurde durch die Vereinigten Staaten und Großbritannien nicht aufgezwungen - derelei wäre auch gar nicht möglich gewesen. Die Demokratie war in der Bundesrepublik erfolgreich wegen des Mutes, der Entschlossenheit und des Weitblicks Millionen einfacher Bürger.

Wie ich erst kürzlich in einer in Nürnberg gehaltenen Rede feststellte, hat sich die deutsche Demokratie zu einer unglaublich erfolgreichen staatsbürgerlichen Kultur weiterentwickelt. Freie Wahlen sind nicht der einzige Maßstab dieser Kultur. Ein starkes Geflecht demokratischer Institutionen hat sich in allen Teilen des öffentlichen Lebens entwickelt. Die Universitäten, die Gewerkschaften, die Nachrichtenmedien und die Unternehmen sind zum Modell für demokratische Staaten in der gnzen Welt geworden.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf dieses demokratische Wunder, während wir über die Lektionen der unmittelbaren Nachkriegszeit nachdenken. Unser demokratisches System wird umso mehr gedeihen, je besser wir die Anstrengungen und den Mut verstehen, die zu seinem Aufbau notwendig waren. Ich glaube, dieser Beitrag wird von der Nachkriegsgeneration manchmal als selbstverständlich vorausgesetzt. Deshalb ist es von ganz entscheidender Bedeutung, daß die jüngeren Leute auf beiden Seiten des Atlantik sich die politischen Leistungen der Nachkriegszeit in Erinnerung rufen, insbesondere die gemeinsame politische Vision so vieler Deutscher und Amerikaner. Es wäre eine Tragödie, wenn diese außerordentliche Periode deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit vergessen - oder, schlimmer noch, verzerrt - würde.

Und es besteht wirklich die Gefahr solcher Verzerrungen. So hat beispieisweise ein deutscher Historiker während einer Konferenz über die Nachkriegszeit angeblich behauptet, die amerikanische Besatzungsmacht habe den Aufbau einer freien und demokratischen Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik Deutschand zunichte gemacht. Diese offenkundige Verzerrung der Nachkriegsgeschichte ist ein Affront gegüber jenen Millionen arbeitender Frauen und Männer, die am Aufbau der freien
Gewerkschaftsbewegung in Deutschland beteiligt waren und auch gegenüber meinen Landsleuten, die an diesem Prozeß teilhatten.

Wie eine Veröffentlichung des DGB-Vorstands aus dem Jahr 1984 dokumentiert, war die deutsch-amerikanische Gewerkschaftssolidarität im Kampf gegen den Nationalsozialismus in der Zeit von 1933 bis 1945 ganz außerordentlich. Diese Zusammenarbeit intensivierte und verstärkte sich noch in der Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als amerikanische Gewerkschaften - und ihre weitblickende Führung - ihren Einfluß darauf verwandten, Plänen zur Entindustrialisierung Deutschlands entgegenzutreten, eine massive Kampagne in die Wege leiteten, um deutsche Arbeitnehmer mit Lebensmittelpaketen zu versorgen und mit Nachdruck die Wiedergeburt freier und demokratischer Gewerkschaften unterstützten, die zu einem Eckpfeiler des neuen Deutschland wurden.

Wie anders sähe Europa heute aus, wenn unsere gemeinsame Vision einer demokratischen Zukunft auf dem ganzen Kontinent geteilt worden wäre. Es ist tragisch, daß die sowjetische Führung von ganz anderen Vorstellungen geleitet. wurde -einer Gesellschaft, die sich auf Feindseligkeit und Reglementierung gründet. Diese Sichtweise machte es den Sowjets unmöglich, die Kraft des demokratischen Ideals zu erkennen. Es führte vielmehr dazu, Streben und Trachten des Menschen zu ignorieren und brachte eine ständige Bedrohung des Friedens in Europa. Aus dem gleichen Grund kam die Sowjetunion ihren Verpflichtungen zu freien Wahlen in Osteuropa nicht nach und ließ auch die Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu.

Die Reaktion des Westens war das NATO-Bündnis. Die Präambel des Nordatlantikvertrags verdeutlicht die visionäre Natur des Bündnisses. Sie stellt fest: Die Unterzeichnerstaaten sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten. Und als die Bundesrepublik 1955 der NATO beitrat, fanden diese Grundsätze speziell für die Zukunft der deutschen Nation und das Ziel der Wiedervereinigung ihre Anwendung. Von Anfang an unterstützte die NATO die deutsche Wiedervereinigung auf der Basis der freien Selbstbestimmung in beiden Teilen des Landes - und tut dies noch immer.

Wären unsere westlichen Vorstellungen in ganz Europa Wirklichkeit geworden, wäre weder ein westliches Militärbündnis, noch die Stationierung amerikanischer Truppen und Raketen in Europa notwendig gewesen. Denn Ursache der Spannung in Europa ist die Teilung dieses Kontinents, nicht aber das Wettrüsten, das nur ein Symptom dieser Spannung darstellt. Hätte man es allen Völkern in ganz Europa ermöglicht, über ihre eigene Art zu leben zu entscheiden, so stünden wir nicht vor den gefährlichen Spannungen oder der Notwendigkeit, große Summen für die Rüstung auszugeben.

Vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Wenn das Begehen eines Jahrestages dieser Art überhaupt eine Bedeutung haben soll, dann muß er als ein Leitfaden für die Zukunft dienen. Die Geschichte läßt sich nicht einfrieren. Neue Herausforderungen und neue Bedrohungen sind auf uns zugekommen. Wenn wir sie in der Zukunft, genauso wie in der Vergangenheit meistern wollen, müssen wir an die Erfahrungen der letzten vierzig Jahre denken und sie auf die Welt vor uns anwenden.

Die derzeitigen Herausforderungen sind um nichts weniger beängstigend als jene, mit denen sich die Staatsmänner vor vierzig Jahren konfrontiert sahen. In vieler Hinsicht ist die Aufgabe sogar noch schwieriger allein schon deshalb, weil die Konturen der Politik weit verschwommener sind. Unsere Vorgänger waren durch das Erlebnis eines schrecklichen Krieges angetrieben.

Unsere Bemühungen heute finden vor dem Hintergrund eines vierzigjährigen Erfolges statt. Unsere Völker leben in Wohlstand und Sicherheit. Die neuen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind nicht immer so klar umrissen, wie jene vor vierzig Jahren. Mitunter ignorieren wir auch Bedrohungen, weil wir ihre Bedeutung für unsere Sicherheit oder unseren Wohlstand nicht sehen. Oder aber einige der neuen Probleme sind so komplexer Natur, daß allein ihre Existenz unseren Bürgern Angst einflößt. Es ist ein Paradox, vor dem wir stehen: Herausforderungen werden entweder unterschätzt und ignoriert, oder überschätzt und zu katastrophalen Proportionen aufgebläht.

Diese beiden Bedrohungen - Furcht und Desinteresse - können unsere Stärke untergraben. Die Weigerung, sich den Problemen zu stellen, kann zu gefährlicher Immobilität führen. Befürchtungen hinsichtlich unserer Fähigkeit, mit den neuen Herausforderungen fertigzuwerden, kann dazu führen, daß wir unseren Freunden mißtrauen und unsere Feinde beschwichtigen.

So bin ich persönlich beispielsweise besorgt darüber, daß einige amerikanische Kritiker Deutschlands behaupten, der Bundesrepublik fehle es an dem Willen, etwas für ihre Verteidigung zu tun und dabei den gewaltigen deutschen Beitrag zu unseren gemeinsamen Bemühungen vergessen. Umgekehrt gibt es in Deutschland einige Leute, die in jeder amerikanischen Maßnahme zur Stärkung des Westens einen aggressiven Plan zur Beherrschung der Welt sehen.

Keine dieser Haltungen ist logisch, nicht einmal rational. Aber Sie sehen, wie leicht unsere Völker in den Teufelskreis von Unwissenheit und Mißtrauen geraten können.

Wenn unsere Leistungen in den nächsten vierzig Jahren genauso gut sein sollen wie in den vergangenen vier Jahrzehnten, müssen wir der Offenheit und dem Verständnis von James Byrnes nacheifern. Dies wird vor allem für die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland von besonderer Bedeutung sein. Unsere Stärke, unsere Stabilität und unsere geographische Lage werden unseren beiden Ländern noch zusätzliche Lasten auferlegen, was Weitblick und Führung anbelangt.

Angesichts ihrer Lage im Zentrum Europas und als Teil eines gespalteten Landes ist die Bundesrepublik Zwängen ausgesetzt, wie sie noch kein anderes Land erfahren hat. In Deutschland steht das demokratische Ideal tagtäglich vor Herausforderungen. Mitunter muß es den Anschein haben, als sei die Situation der Bundesrepublik erstarrt, eingefroren. Verbesserungen scheinen in weiter Ferne zu liegen.

Nach vierzig Jahren, so ist bisweilen der Eindruck, sind die alten Prinzipien in die Sackgasse geraten. Es besteht die Gefahr, daß Entmutigung an die Stelle von Hoffnung als Grundprinzip des öffentlichen Lebens tritt. Aber wir können auch optimistisch reagieren, wie dies unsere Vorgänger vor vierzig Jahren taten. Wir können die komplizierte Situation in Deutschland and Europa als eine Gelegenheit ansehen, die Kraft des demokratischen Ideals in der neuen Phase der Geschichte, in die wir gerade eintreten, hervorzuheben.

Daß es Grund zur Hoffnung gibt, läßt sich am Verlauf der Beziehungen zwischen
Ost und West verdeutlichen. Vor vier Jahren sagten viele eine Eiszeit bei den Beziehungen zwischen Ost and West voraus. Und doch gab es noch niemals eine solche Vielzahl von Treffen zwischen amerikanischen und sowjetischen Repräsentanten wie gerade heute. Außenminister Shultz and der sowjetische Außenminister Schewardnadse werden sich diesen Monat erneut treffen, um die Vorbereitungen für das nächste Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan and Generalsekretär Gorbatschow fortzusetzen. Präsident Reagan formulierte es in einer bedeutsamen Rede in Glassboro, New Jersey, im Juni so:

"Wenn beide Seiten wirklich den Fortschritt wollen, dann sollte dies einen Wendepunkt bei den Bemühungen markieren, aus unserem Planeten eine sicherere and friedlichere Welt zu machen."

Aber unser Bemühen um den Frieden ist nicht auf Europa oder Nordarnerika begrenzt. Eine der wichtigsten Botschaften für die Zukunft besteht darin, daß das Streben nach Demokratie sich weit über unsere beiden Staaten hinaus entfaltet. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben über hundert neue Staaten die politische Szene betreten. Diese Staaten sind mit Problemen konfrontiert, die noch weit ernsterer Natur sind als jene, vor denen Europa vor vierzig Jahren stand.

Die Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas führen einen gewaltigen Kampf gegen Armut, Krankheit und Unterentwicklung. Sie streben auf der Grundlage traditioneller Kulturen nach der Entwicklung moderner Gesellschaften. Frustration and Hoffnungslosigkeit sind in diesen Ländern weit gefährlicher als in Deutschland.

Viele dieser Länder sind weit von uns entfernt, aber sie haben für unsere eigene Zukunft unmittelbare Bedeutung. Die Demokratie ist nicht so weit verbreitet und nicht so abgesichert, als daß es sich die demokratischen Staaten erlauben könnten, die Notlage anderer sich abmühender Staaten zu ignorieren. Ich bin davon überzeugt, daß diese Staaten rascher Erfolg haben werden, wenn sie für ein offenes, demoktatisches System optieren.

Wenn wir der übrigen Welt dabei behilflich sein können, das demokratische System zu verstehen und anzunehmen, werden auch unsere eigenen Ideale gestärkt. Genau wie die Erfolge bei unserer Unterstützung der Verteidigung der Demokratie in Berlin meine eigene Nation inspirierte, so kann auch die Gemeinschaft des Westens ihr eigenes demokratisches System stärken, indem sie anderen Staaten dabei behilflich ist, sich der Wohltaten unseres offenen Systems zu erfreuen.

Die Herausforderung, vor des sich die Bundesrepublik Deutschland heute befindet, besteht darin, bei der Bewältigung dieser Aufgabe eine führende Position zu übernehmen. Vor vierzig Jahren machten es sich die Vereinigten Staaten zur Aufgabe, Deutschland bei seiner Rückkehr zur Gemeinschaft freier Nationen zu helfen. Jetzt erwarten andere Staaten eine solche Hilfe von Deutschland. Ich finde es höchst ermutigend, wie die Bundesrepublik sich dieser Herausforderung stellt. Nur wenige Staaten tragen weltweit eine solch große Verantwortung.

Die Botschaft einer offenen Welt ist ein kraftvolles Rezept für Erfolg. Wenn wir durch unsere Zusammenarbeit für Demokratie und Offenheit unsere Ideale stärken, so stärken wir zugleich ihre Attraktivität in Osteuropa. Positive entwicklungen in Asien und Lateinamerika demonstrieren diese Attraktivität des demokratischen Ideals. Wenn wir dort auch weiterhin Erfolge erzielen, kann Osteuropa nicht für immer in der Rückständigkeit von Teilung und Unterdrückung verharren.

Zusammengefaßt: wir sollten uns diese Vision wieder zueigen machen, wie sie Außenminister Byrnes vor vierzig Jahren formulierte. Wir sollten keine Angst vor Träumen und vor dem Entwurf einer besseren Zukunft haben. Und wie ich schon so oft gesagt habe: Deutschland und die Vereinigten Staaten sollten sich in einer reifen Partnerschaft zusammenschließen, in der jeder einen gerechten Anteil an den Lasten und an der Verantwortung für das Wohl unserer westlichen Gemeinschaft trägt.

Sogar in unseren beiden Ländern stellen manche Leute bisweilen diese Vision in Frage. Ihrer Meinung nach ist die Welt zu kompliziert oder zu gefahrvoll. Ein Festhalten an unseren Idealen bedeute nur die Gefahr, andere dazu zu bringen, gegen uns zurückzuschlagen.

Fur mich ist das Defätismus. Und es ist ein Rezept für Versagen. Tatsachen sind nicht alles.

Unsere Art zu leben bezieht ihre Kraft aus unserer Hingabe. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, stolz auf das von uns Geleistete zu sein und voll Hoffnung hinsichtlich dessen, was wir in Zukunft noch tun können. Dieser Stolz und diese Hoffnung werden den weiteten Erfolg unserer Vision sicherstellen - unserer westlichen Vision von der Menschheit.

Wie es seiner Herkunft aus den Südstaaten entspricht, war Außenminister Byrnes ein Mann der wenigen Worte. Aber oft ist gerade Kürze besonders aussagekräftig. Und ich meine, er formulierte unsere westliche Botschaft besonders prägnant in der Schlußpassage seiner 1947 geschriebenen Memoiren:

"... nicht selten war ich zutiefst entmutigt. Unsere wiederholten Bemühungen, Zusammenarbeit in einer friedlichen Welt zu erreichen, schienen immer nur auf schroffe Abweisung zu stoßen. Aber mit Geduld und Entschlossenheit setzten wir unsere Anstrengungen fort. Ich habe die Hoffnung nicht verloren, auch wenn ich heute Abfolge und Betonung umkehren würde. Ich würde nämlich sagen, dass unsere Politik eine Politik der Festigkeit und der Geduld sein sollte... Mit dem Ziel eines gerechten Friedens inspiriert uns die Vergangenheit der Freiheit und ruft uns die Zukunft der Freiheit."

 
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Aktualisiert: Mai 2003