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Träger der politischen Willensbildung Hartmut Wasser |
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Verfassungen schaffen Institutionen, weisen ihnen Funktionen zu, statten sie mit Befugnissen aus und regeln ihr Mit- und Gegeneinander bei der Formung des staatlichen Willens. Demokratische Verfassungen verankern die politischen Einrichtungen in der Staatsbürgerschaft, verweisen sie mit ihren Legitimationsbedürfnissen an den Volkssouverän und siedeln Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in jenem Raum an, in dem sich Staat und Gesellschaft wechselseitig durchdringen und aufeinander einwirken. Aber Verfassungen schweigen sich im allgemeinen darüber aus, wie gesellschaftliche Mitwirkung am öffentlichen Herrschaftsprozeß zu verwirklichen sei, wie das politische Institutionengefüge mit Leben erfüllt und zum Funktionieren gebracht werden könne. Politische Parteien So haben sich in den USA wie anderswo gesellschaftliche Organisationen autonom herausgebildet - politische Parteien vor allem, Interessenverbände und die Medien -, welche die "lebende Verfassung" geprägt und die Massengesellschaft im modernen Großflächenstaat erst handlungsfähig gemacht haben. Von ihnen muß deshalb die Rede sein, wenn das politische System eines Landes betrachtet wird. Wie manche Eigentümlichkeiten im politischen oder Rechtsbereich der USA haben auch Besonderheiten des amerikanischen Parteiwesens Europäer stets aufs neue verblüfft: Die großen nationalen Parteien der Demokraten und Republikaner präsentieren sich heute als Patronageparteien ebenso wie als locker organisierte Verflechtungen wirtschaftlicher, sozialer und ethnischer Interessenverbände sowie als Wahlkartelle untereinander grundverschiedener lokaler und regionaler Parteiinstanzen mit mancherlei personalpolitischen und wenigen programmatischen Gemeinsamkeiten. Diese Besonderheiten dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Geschichte des modernen Parteiwesens insgesamt in der Frühphase der amerikanischen Republik ihren Ausgang genommen hat. Man könnte es als Ironie der Geschichte bezeichnen, daß ausgerechnet in den USA die Geburtsstunde der modernen Partei(en) schlug. Denn die Schöpfer der amerikanischen Verfassung wollten von Parteien aus Furcht vor Spaltungstendenzen im neu gegründeten Gemeinwesen nichts wissen. George Washington, erster Präsident des Landes, warnte noch 1796 in seiner Abschiedsbotschaft an die amerikanische Nation vor den Gefahren durch Parteiungen und Fraktionen. Aber auch die Gründungsväter konnten jenes "eherne Gesetz der Geschichte" nicht außer Kraft setzen, welches besagt, daß überall dort, wo sich im Gefolge der amerikanischen und französischen Revolution Großflächenstaaten und Massengesellschaften demokratisierten, politische Parteien eine wichtige Rolle zu spielen begannen. Dies galt in besonderem Maße dort, wo checks and balances den Herrschaftsprozeß strukturierten. Brauchte doch das komplizierte Räderwerk der Regierungsmaschinerie "Transmissionsriemen", um die geforderten politischen Leistungen zu erbringen. Geschichtliche Entwicklung des Parteiensystems Ähnlich wie in parlamentarischen Regierungssystemen gingen auch in Amerika die einzelnen Parteien und das Parteiensystem insgesamt aus Gruppierungen im Parlament, also im Kongreß, hervor. Im ersten Jahrzehnt der Republik standen sich die Federalists um Alexander Hamilton, gestützt von George Washington und John Adams, und die Jeffersonian-Republicans um Thomas Jefferson gegenüber, die häufig auch als Democratic-Republicans bezeichnet wurden und als Vorläufer der heutigen Demokraten angesehen werden. Während die Federalists Handels- und Landbesitzerinteressen des Nordens repräsentierten und für eine Stärkung der Bundesgewalt sowie außenpolitisch für die Aufrechterhaltung besonderer Verbindungen zu Großbritannien eintraten, vertraten die Jeffersonian-Republicans eher die Bauern und Plantagenbesitzer im Süden. Sie betonten die Rechte der Einzelstaaten und plädierten außenpolitisch eher für eine Anlehnung an Frankreich. Organisatorisch stellten diese frühen Parteien nicht viel mehr als eine lockere Förderation lokaler Honoratiorenvereine dar. Relativ gut organisierte, breitere Wählerschichten integrierende Parteien entwickelten sich nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als [...] die Jefferson-Republikaner, die sich bald als Demokraten bezeichneten, zur Mehrheitspartei wurden. Sie betonten politische Gleichheit und wandten sich - ihre Opponenten, die Federalists bzw. Whigs damit angreifend - gegen ”aristokratische” Privilegien. Sie appellierten an den ”kleinen Mann” im Volk und setzten wichtige Reformen des politischen Willensbildungsprozesses wie die Demokratisierung der Verfahren zur Nominierung und Wahl des Präsidenten durch. […] Mit dem Konflikt um die Sklaverei und dem Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten (1861-1865) strukturierte sich das amerikanische Parteiensystem erneut um. Die Demokraten wurden zur Minderheits-, die 1854 gegründeten Republikaner unter Abraham Lincoln zur Mehrheitspartei. Mit der sich nach dem Bürgerkrieg durchsetzenden Industrialisierung entwickelten sich die Republikaner zur Partei der Unternehmer und Bankiers, der Industriearbeiter und der Großstädter, aber auch der Farmer im Norden und Westen. Demgegenüber repräsentierte die Demokratische Partei im wesentlichen die Interessen der armen Weißen und der Großgrundbesitzer im Süden. Die Schwarzen unterstützten zumeist die Republikaner, die in den 1860er Jahren im Kongreß die Abschaffung der Sklaverei und das Verbot einer Beeinträchtigung von Wahlrechten aufgrund von Rasse, Hautfarbe oder früherer Zwangsdienstbarkeit durchgesetzt hatten. Dieses verfassungsrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot wurde jedoch in mehreren Bundesstaaten durch die Festsetzung von bestimmten Wahlrechtsvoraussetzungen (zum Beispiel Nachweis der Lese- und Schreibfähigkeit) umgangen, die von den Schwarzen zumeist nicht erfüllt werden konnten, […] Die Demokratische Wählerkoalition blieb aber nicht auf die Südstaaten beschränkt, sondern umfaßte auch einige Großstädte im Nordosten, Radikaldemokraten im Westen und von Industrialisierung und Finanzkapital sich bedroht fühlende Farmer im Mittleren Westen, […] Die Republikaner beherrschten jedoch zwischen 1861 und 1931 nicht nur die Parlamente der Einzelstaaten und den Kongreß, sondern stellten auch 14 von 18 Präsidenten. Der Erfolg Demokratischer Präsidentschaftskandidaten wurden 1884, 1892, 1912 und 1916 nur dadurch möglich, daß die Republikaner zerstritten waren. Dies war zugleich jene Phase der amerikanischen Parteiengeschichte, in der sich in vielen Großstädten sogenannte Parteimaschinen (party machines) herausbildeten, die die für eine erfolgreiche Bewerbung um ein öffentliches Amt erforderliche Stimmenmehrheit mit zum Teil korrupten Praktiken zu beschaffen vermochten, […] Die bürgerlichen Reformer hatten aber eine Reihe von Neuerungen durchzusetzen vermocht (zum Beispiel die Einführung von Vorwahlen), die dazu beitrugen, daß die Verbindung zwischen Partei und Wählern geschwächt wurde. […] Unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise, die mit dem New Yorker Börsenkrach 1929 begann, ist es dann zur bisher letzten markanten Umstrukturierung des amerikanischen Parteiensystems gekommen. Die Demokraten wurden 1932 zur Mehrheitspartei. Die 1936 endgültig etablierte New Deal-Koalition umfaßte sowohl die auf den Eingriff des Zentralstaates zur Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation angewiesenen Wählergruppen, nämlich die Industriearbeiter des Nordostens und Mittleren Westens, häufig katholische Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, die in jenen Jahren in die Industriegewerkschaften strömten, Schwarze und Juden, als auch jene traditionell demokratisch wählenden Schichten in den Südstaaten. Die New Deal-Koalition ist heute bei Präsidentenwahlen nicht mehr mehrheitsfähig. Viele städtische Industriearbeiter und mit ihnen einige Einwanderergruppen wie Italiener und Polen sowie Teile der Katholiken und Juden sind in den fünfziger und sechziger Jahren sozial und wirtschaftlich aufgestiegen und daher auf die Hilfe des Sozialstaates nicht mehr unmittelbar angewiesen. Sie gehören heute zu den Wechselwählern bzw. zu den Anhängern der Republikaner. Peter Lösche, Die politischen Parteien, in: W. Jäger/W. Welz (Hg.), Regierungssystem der USA, München 1995, S. 270/271. Gründung und Entwicklung Schon um das Jahr 1800 herum ließen sich in den USA moderne Parteien wenigstens umrißhaft erkennen: Auf Dauer angelegte Organisationen, die gesamtpolitische Positionen vertreten, sich einen zuverlässigen Wählerstamm schaffen, Kommunikationskanäle und anerkannte Führungsgremien auf nationaler, einzelstaatlicher und kommunaler Ebene hervorbringen und Öffentlichkeitsarbeit über parteiorientierte Medien betreiben. Schon früh im 19. Jahrhundert nahm das US-Parteiwesen seine eigentümlichen Züge an, formten sich Patronageparteien und entstand ein Zweiparteiensystem, das sich bis heute erhalten hat. Die amerikanischen Parteien kümmerten sich von Anfang an vor allem um die Vergabe und Besetzung politischer Ämter auf allen Ebenen des Staates und entwickelten dabei einen unbekümmert zupackenden Machtdrang und ganz praktische Verhaltensweisen. Für konfessionelle Weltanschauungsparteien nach europäischem Muster war ebensowenig wie für ideologisch-doktrinäre Gruppierungen Raum in einem Gemeinwesen, das zwischen Kirche und Staat strikt trennte und dem der politische und wirtschaftliche Liberalismus als selbstverständlich-naturgewolltes Prinzip des öffentlichen Lebens galt. Ebensowenig konnten sich auf die Dauer Klassenparteien in einem gesellschaftlichen Umfeld behaupten, das ständische Strukturen überwunden hatte, die Chance der Startgleichheit für jedermann postulierte und durch die "offene Grenze" im Westen Ausweichmöglichkeiten für den bot, der mit seinen Lebensbedingungen haderte. Die Patronagepartei setzte sich unter der Präsidentschaft Andrew Jacksons (1829-1837) vollends durch. Der "Mann aus dem Volk" wollte mit dem Dogma der Volksherrschaft auch dadurch Ernst machen, daß die Bürger möglichst viele Beamte auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene in freier Wahl direkt bestellen sollten - Ortssheriffs, lokale Feuerwehrchefs ebenso wie Staatsanwälte, Richter, Schulverwaltungsbeamte oder politische Funktionsträger auf regionaler und einzelstaatlicher Ebene. Solche Wahlen bedurften der Organisation, die von Parteien übernommen wurde. Alle übrigen Amtsträger sollten aber vom Präsidenten der USA, den Gouverneuren und Bürgermeistern unter parteipolitischen Gesichtspunkten berufen werden. Die Demokratisierungsideologie Jacksons legte die Richtung fest, in der die Parteien künftig marschierten. Sie verstanden sich jetzt als Bewegungen zur Versorgung aktiver Parteimitglieder mit öffentlichen Ämtern und staatlichen Aufträgen. Ihre innere Organisation entfernte sich dabei weit vom Pfade demokratischer Tugend. Professionelle "Unternehmer" "betrieben" mit einem sorgfältig ausgelesenen Funktionärskörper die Partei. Dieser gut funktionierende Apparat entschied über die Verteilung der Ämter und Aufträge, ließ sich dafür auch in Form von "Maklergebühren" oder sonstigen Leistungen bezahlen, manipulierte die Parteitage (conventions) und brachte bei Wahlen das notwendige "Stimmvieh", wie es damals genannt wurde, zu den Urnen. Damit waren die Unterschichten, insbesondere Neueinwanderer gemeint, denen man aus parteitaktischen Gründen soziale Fürsorge angedeihen ließ. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ist die traditionelle Patronagepartei verschwunden. Damals traten Reformgesetze in Kraft, welche (wenn auch mit wechselndem Erfolg) die Demokratisierung parteiinterner Personalentscheidungen erzwangen, die Offenlegung der Parteifinanzen geboten und im Civil Service ein berufsbeamtenähnliches Bürokratenkorps schufen, das dem parteipolitischen Zugriff weitgehend entzogen blieb. Der Wandel des "Nachtwächterstaates" zur modernen Wohlfahrts- und Daseinsvorsorgeanstalt im Zeichen des New Deal veranlaßte die Parteien, sich im sozial- und wirtschaftspolitischen Bereich stärker als zuvor zu profilieren und Gruppeninteressen zu vertreten, wo die alte Patronagepartei vor allem individuelle Interessenförderung betrieben hatte. So wie früher haben auch die heutigen Parteien ihren organisatorischen Schwerpunkt noch immer auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene, also dort, wo nach wie vor die meisten öffentlichen (Amts- oder Mandats-)Positionen durch Wahlen vergeben werden. Aber sie verkörpern stärker als zuvor Verflechtungen unterschiedlicher sozialer Gruppen und unterscheiden sich dadurch voneinander. Seit den dreißiger Jahren gilt (wenngleich mit abnehmender Tendenz), daß die gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter des Nordostens und Mittleren Westens, daß Schwarze, Juden (und manche anderen ethnischen Minderheiten) mit den Demokraten verbunden sind, die Interessen von größeren und mittleren Unternehmen und Banken, die Bewohner der Vorstädte (suburbs) und viele Landwirte sich den Republikanern zugesellt haben. Eben dieser Koalitionscharakter der amerikanischen Parteien zwingt sie weiterhin zu Pragmatismus und Kompromißbereitschaft, läßt sie freilich auch weiterhin unfähig erscheinen, sich kontinuierlich in den Dienst einer einheitlichen Regierungspolitik zu stellen. Merkmale des Parteiensystems Neben dem eigentümlichen Charakter der amerikanischen Partei als ideologieferner Patronagepartei, später als gleichermaßen pragmatischer Rahmenorganisation für Koalitionen unterschiedlicher Interessen, hat das spezifische Parteiensystem die Kontinentaleuropäer verblüfft, weil sie in ihm nicht selten eine erstrebenswerte Alternative zur heimischen Parteienvielfalt sahen. Von Anfang an entwickelte sich nämlich in der "Neuen Welt" ein Zweiparteiensystem: Wo Herrschaftspositionen, Ämter und Pfründe durch Mehrheitsentscheid in Einpersonenwahlkreisen besetzt wurden, boten sich Splitterparteien keine Chancen. Die Kombination zweier Faktoren - Herrschaftsbestellungsfunktion und relatives Mehrheitswahlrecht - führte also zur Konzentration des amerikanischen Parteiwesens. Die zweihundertjährige Geschichte der USA weist aus, daß sich stets über längere Zeiträume hinweg jeweils zwei große Parteien gegenüberstanden. Eine von ihnen gewann im allgemeinen die Kongreßwahlen während mehrerer Legislaturperioden, während die anre mindestens vorübergehend das Präsidentenamt zu besetzen vermochte. Beide Gruppierungen konnten sich auf bestimmte Stammregionen und Wählerschichten verlassen, artikulierten relativ unterschiedliche politische Positionen, ohne sich doch programmatisch allzuweit voneinander zu entfernen. Ein realignment, ein drastischer Wandel im etablierten Parteigefüge, stellte sich dann ein, wenn neue Streitfragen in der Gesellschaft aufbrachen, welche die traditionellen Parteigrenzen sprengten. Dies galt etwa für die Spaltung zwischen Nord und Süd im Zeichen der Sklavenfrage und des Sezessionskrieges. Hatten bis in die 1850er Jahre hinein die Demokraten die Politik im Lande dominiert, so gerieten sie bei Bürgerkriegsende als "Partei des Südens" in eine Minderheitsposition. So konnten sie zwischen 1868 und 1928 nur vier Präsidentenwahlen gewinnen, während die Republikaner zwölfmal als Sieger hervorgingen. Ende der 1920er Jahre sorgte dann die wirtschaftliche Depression für ein neues realignment. Die Republikaner suchten zunächst die Krise zu bagatellisieren und vermieden es, das heiße Eisen anzufassen, weil sie nicht wußten, welche Auswirkungen eine neue Politik auf die vertraute Wählerbasis habe. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Franklin Delano Roosevelt plädierte für eine aktivere Rolle des Staates in der Wirtschaft, verkündete ein Arbeitsbeschaffungsprogramm und eine neue Sozialpolitik und zog damit Gruppen - Industriearbeiter, kleine Gewerbetreibende, Schwarze, Katholiken, ethnische Minderheiten - auf die Seite der Demokraten, die zuvor zum Wählerpotential der Republikaner gehört hatten. Zusammen mit den traditionell demokratisch wählenden Südstaaten bescherte diese New-Deal-Koalition den Demokraten eine mehrheitsfähige Machtbasis, die jahrzehntelang existierte und erst in den siebziger und achtziger Jahren massiv erschüttert wurde. Gelegentlich haben auch dritte Parteien die eingespielten Machtrelationen zwischen den beiden Großen ins Wanken gebracht, indem sie heiße Eisen aufgriffen und Teile der demokratischen oder republikanischen Stammwählerschaften für sich mobilisieren konnten. Die etablierten Parteien mußten reagieren, alternative Problemlösungsmodelle entwickeln, mit polarisierten Positionen auf die neue Herausforderung antworten, was die Wählergruppen in Bewegung und Machtverschiebungen in Gang setzte. Dritte Parteien Neben den beiden Traditionsparteien tauchten immer wieder dritte Parteien auf; in einzelnen Staaten sogar zuweilen mit solchem Erfolg, daß sich darüber echte Mehrparteiensysteme entwickelten. Unter dem Etikett "dritte Partei" versammelten sich in der amerikanischen Geschichte ganz unterschiedliche Gruppierungen:
Aufs Ganze gesehen geriet das Zweiparteiensystem kaum je ernsthaft in Bedrängnis. Demokraten und Republikaner pflegten Themen und Programme von Drittparteien in dem Augenblick "aufzusaugen", wo diese Gruppierungen eine gewisse Durchschlagkraft zu gewinnen schienen. Selbst deren Personal wurde im allgemeinen integriert. Gerade weil das Zweiparteiensystem der USA stets flexibel, dezentral und kompromißfähig gewesen ist, konnte es solche "Aufsaugfunktionen" erfüllen; es verlieh damit dem Regierungssystem ein hohes Maß an Stabilität und ermöglichte in realignment-Phasen auch politischen Wandel oder erfüllte im damit verbundenen Austausch des Führungspersonals das Verfassungsgebot der Machtbalance und Herrschaftskontrolle. Organisationsprinzipien Auch hinsichtlich ihrer inneren Ordnung nehmen die US-Parteien eine Sonderstellung ein. Jegliche organisierte Mitgliedschaft ist ihnen ebenso fremd wie die straffe Formalisierung des Willensbildungsprozesses zwischen der Parteiführungsspitze und den unteren Gliederungen. Was meint überhaupt der Begriff der Parteimitgliedschaft? "Herr A. mag sich für einen Demokraten halten und auch als solcher gelten; Herr B. für einen Republikaner und Herr C. für einen Sozialisten, und häufig wird darunter verstanden, daß sie ,Mitglieder' der betreffenden Partei seien. Für die meisten Leute ist Mitgliedschaft in einer Partei jedoch ein reichlich vager und schwer definierbarer Begriff. Wenn eine Person irgendeiner anderen Organisation angehört - einer Kirche, einer Loge oder einer Berufsorganisation -, dann geht man davon aus, daß sie ihr durch irgendeinen positiven Akt beigetreten ist, daß sie Beiträge zahlt oder sonstige Zuwendungen macht, möglicherweise in einem Ausschuß tätig ist, ein Amt bekleidet oder anderweitig am inneren Verbandsleben aktiven Anteil nimmt. Bei den großen politischen Parteien kann nichts derartiges mit Sicherheit angenommen werden. Es bestehen keine Verfahrensregeln oder Zeremonien für den Beitritt. Es gibt in der Regel keine Mitgliedschaft. Die Partei erhält keine schriftliche Verpflichtung, die ein Bekenntnis zu dem Parterogramm enthält, sie erhebt keine Beiträge (obgleich gelegentlich Anstrengungen gemacht worden sind, ein System regelmäßiger Beitragszahlungen einzuführen), sie hat keine Statuten, die sie durchzusetzen in der Lage ist und keine Mittel, ein Mitglied zu maßregeln, außer, daß es die Partei ablehnt, es zu unterstützen, wenn es sich um ein öffentliches Amt bewirbt. Man ist ein Demokrat oder ein Republikaner, wenn man dies von sich behauptet, jedenfalls, wenn man ständig der einen oder anderen Partei bei den Wahlen seine Unterstützung gibt. Und das ist alles, was hierüber zu sagen ist. Außerdem kann man seine Meinung und seine Parteitreue so oft ändern, wie es einem paßt. Es bleibt jedermann überlassen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie viele Mitglieder eine Partei besitzt, und dies gilt auch dann, wenn es zuverlässigere Kriterien darüber gäbe, wer als Parteimitglied angesehen werden kann und auf wen dies nicht zutrifft."(Ogg/Ray.) In der Vergangenheit wirkte dennoch das Merkmal ausgeprägter Parteitreue von Individuen und Gruppen als wichtiger Faktor der Berechenbarkeit und Stabilität des politischen Systems. Gesellschaftliche Schichten entwickelten nach Herkunft, Bildung und Beruf, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, nach Wohnsitz und Region eindeutige Sympathien für eine der beiden großen Parteien, die sich in der Kalkulierbarkeit ihres Wahlverhaltens niederschlugen. War man im Vorstadt-Bereich, in Vermont, Pennsylvania oder Kansas überwiegend republikanisch gesonnen, lebten in den Zentren der Großstädte, in South Carolina, Alabama oder Georgia "geborene" Demokraten. Wählte die Oberschicht traditionell republikanisch, identifizierten sich Geschäftsleute mit der Republikanischen Partei, der Grand Old Party (GOP), stimmten die unteren Schichten eher für die Demokraten, bekannten sich die Industriearbeiter zum Esel, dem politischen Wappentier der Demokraten. Schrieb die WASP-Herkunft, die Zugehörigkeit zur weißen, angelsächsisch-protestantischen Schicht, die republikanische Stimmabgabe (das republikanische Wappentier ist der Elefant) fest, fühlten sich traditionellerweise die katholischen Slawen, Italiener, Iren, auch die Juden, zur Demokratischen Partei hingezogen. Bessere Erziehung und höheres Alter schufen republikanische, durchschnittliche Schulbildung und Jugend demokratische Präferenzen. Die politische Gegenwart hingegen wird durch den Abbau traditioneller Parteibindungen geprägt, durch die zunehmende Unbeständigkeit im Beziehungsgeflecht zwischen Parteien, Gruppen und Individuen, durch eine Zunahme der Wechselwähler (floating vote) und der independents, der sich zu keiner der beiden Parteien bekennenden Bürger, ohne daß die Sozialwissenschaften derzeit schon die Ursachen solchen Wandels eindeutig feststellen oder seine politischen Auswirkungen widerspruchsfrei bestimmen könnten. Die Eigentümlichkeiten der amerikanischen Parteien setzen sich im organisatorischen Aufbau fort. Die einzelnen Ebenen von der lokalen Basis über die Bezirksebene (county) zur Staatenorganisation, die ihrerseits in die nationale Repräsentation einmündet, aktivieren sich in autonomen Komitees, die von den Parteimitgliedern durch Delegation über parteiinterne oder staatlich regulierte Vorwahlen beschickt werden. Von oben nach unten verlaufende Befehlsstränge sind unbekannt. Da die Parteien primär als Wahlkampfvereine wirken, die öffentliche Ämter für ihre Kandidaten erobern wollen (weshalb auch die Organisation der Parteien seit den 1870er Jahren der räumlichen Einteilung der Wahlgebiete in Wahlbezirke [voting districts] angepaßt ist), ist sogar das Gewicht der Ortsverbände und county committees besonders groß, weil heute die meisten Wahlämter auf kommunaler und county-Ebene zu besetzen sind. Auf einzelstaatlicher Ebene koordiniert die Partei vor allem das Geschäft der Kongreßwahlen, versucht die Vielzahl der Komitees zur Kommunikation anzuhalten, entwirft die politische Gesamtkonzeption der Partei im Lande und treibt Geld zur Finanzierung der verschiedenen Tätigkeiten auf. Auf nationaler Ebene haben die amerikanischen Parteien drei Kristallisationskerne entwickelt: den Parteivorsitzenden (national chairman), den Parteivorstand national committee) und den Parteitag (national convention). Sie bilden aber keinesfalls die Spitze einer Hierarchie nach europäisch-deutschem Muster, die nach "unten" Weisungen erteilen könnte. Der Parteivorsitzende, in der Regel vom jeweiligen Präsidentschaftskandidaten der Partei im Einvernehmen mit dem Parteivorstand ernannt, soll die Parteiarbeit auf Bundesebene koordinieren, Medienpflege betreiben, Kontakte zu den Einzelstaatsorganisationen halten und Wahlen auf nationaler Ebene vorbereiten. Er wird dabei von dem selten tagenden Parteivorstand unterstützt, der Delegierte aller fünfzig Einzelstaaten umfaßt und ein äußerst heterogenes Gebilde darstellt. Der Parteitag (national convention) hat wichtige Funktionen zu erfüllen. Er nominiert den Parteikandidaten für die Ämter des Präsidenten und Vizepräsidenten und verabschiedet sowohl das Parteiprogramm (party platform) als auch die Parteistatuten. Die Parteitage beider Parteien treten alle vier Jahre zusammen und setzen sich aus einzelstaatlichen Delegierten zusammen. Deren Zahl errechnet sich nach einem komplizierten Verteilerschlüssel: 1992 setzte sich der Demokratische Bundeskonvent aus 4282 Delegierten (und 1170 Ersatzdelegierten, den sogenannten alternaties), derjenige der Republikaner aus 2206 Delegierten und ebensovielen alternaties zusammen. Der Föderalismus ist also auch im Bereich des Parteiwesens stark entwickelt. Lediglich im Präsidentschaftswahljahr treten die Parteien als überregionale Kraft in Erscheinung, sieht man von der Dauerrepräsentanz der Kongreßfraktion von Demokraten und Republikanern in Washington ab. Gesetze der Einzelstaaten regeln im wesentlichen auch den rechtlichen Rahmen des Parteiwesens, ein Minimum innerparteilicher Demokratie, die Verfahren der Kandidatennominierung für Parteiämter und gemeinsam mit Bundesvorschriften wenigstens ansatzweise den schwierigen Bereich der Parteienfinanzierung. Diese beruht fast ausschließlich auf freiwilligen Spenden, wenn man von staatlichen Zuschüssen bei Präsidentschaftswahlen einmal absieht. Rolle der Parteien im politischen System der Vereinigten Staaten Die Parteien […] waren Opfer von Veränderungen in der politischen Landschaft: In der neueren Parteiengeschichte büßten sie immer mehr von den Funktionen ein, die zuvor zu ihren Aufgaben gehört hatten. Die Entstehung eines weitgehend auf Leistung beruhenden Beamtentums entzog der Ämterpatronage den Boden. Durch die (bis vor kurzem festzustellende) Abnahme der Masseneinwanderung verlor der städtische Parteiapparat seine historische Klientel. Die Arbeit der Parteien wurde von Sozialarbeitern und vom Wohlfahrtsstaat übernommen; sie kümmerten sich um die Armen und Hilfsbedürftigen. Eine diversifiziertere Gesellschaft eröffnete neue Aufstiegsmöglichkeiten. […] Und die Parteien versäumten es in der jüngeren Vergangenheit oftmals, sich der Anliegen breiter Kreise anzunehmen. Eine Vielzahl bedeutsamer Bewegungen ist deshalb außerhalb der Parteien entstanden. Die Bürgerrechtsbewegung, die Frauenemanzipationsbewegung, die Umweltschutzbewegung, die Antikernkraftbewegung und die ”Moral Majority”* entwickelten sich allesamt aus den ”Graswurzeln” und wurden zu wichtigen Faktoren der amerikanischen Politik. […] Die Parteien traf ein weiterer Schlag, als die Reformen mit dem Ziel, die Rolle des Geldes bei Wahlen zu kontrollieren, dazu führten, daß sie die Verfügungsmacht über die Wahlkampffinanzierung zumindest teilweise einbüßten. Das Bundeswahlgesetz von 1974 ermöglichte finanzielle Zuschüsse zum Präsidentschaftswahlkampf aus öffentlichen Mitteln. Das Gesetz führte Obergrenzen für die Spenden an Kandidaten ein und räumte dabei parteilosen ”politischen Aktionskomitees” (PACs) mehr Möglichkeiten ein als Einzelpersonen. […] Das alte Parteiensystem hatte drei Stützpfeiler: Auf der einen Seite stand der Politiker, auf der anderen der Wähler, und zwischen ihnen befand sich die Partei. Die Partei hatte die unverzichtbare Aufgabe, zwischen dem Politiker und dem Wähler zu vermitteln, eine gegenseitige Verständigung herzustellen und das im politischen Prozeß erforderliche Bindeglied zu sein. Die elektronische Revolution hat diese Mittlerrolle weitgehend eliminiert. Sie hat damit die traditionelle Parteistruktur untergraben. Das Fernsehen bringt den Politiker direkt zum Wähler, und dieser beurteilt Kandidaten weit stärker unter dem vom Fernsehen vermittelten Eindruck als nach dem, was die Partei ihm mitteilt. Computergestützte Meinungsumfragen bringen den Wähler direkt zum Politiker, und dieser beurteilt die Wählerschaft weit stärker nach den Ergebnissen der Umfragen als nach dem, was die Partei ihm mitteilt. Die Hauptfunktion der Parteien, die von A. Lawrence Lowell treffend als ”ein Maklergeschäft” beschrieben wurde, ist im Elektronikzeitalter verschwunden. Die Parteien haben die Kontrolle über die Informations- und Kommunikationsverbindungen verloren. Die Parteien sind als Einrichtungen zur Mobilisierung der Massen nicht mehr vonnöten, auch nicht als Informations- und Kommunikationsknotenpunkte; sie werden als Makler, als Wohlfahrtseinrichtungen oder als Helfer bei der kulturellen Integration nicht mehr gebraucht, nicht einmal als Wahlkampfmanager. Die Parteien sind nicht mehr die Brutstätte der Politik. Sie stellen nicht mehr das Verbindungsglied zwischen der Regierung und dem Volk dar. Sie geben den Arbeitslosen keine Jobs mehr und den Armen keine Suppe, Sie scheinen nutzlos zu sein. Die Alternative zum Parteiensystem wäre jedoch ein langsamer, qualvoller, turbulenter Niedergang in eine Ära der ”Politik ohne Parteien”. […] Eine Politik dieser Art zeigt sich schon jetzt im nicht-parteigebundenen Wahlverhalten, im ”ticket splitting”, also der Stimmenverteilung auf verschiedene Parteien, im Nichtwählen, in der Kandidatur parteiloser Bewerber und im professionellen Wahlkampfmanagement; sie zeigt sich darin, daß das Fernsehen die Organisation ersetzt, und daß auf Einzelpersonen ausgerichtete Bewegungen Auftrieb haben. All dies verdeutlicht, daß die Wähler einen sich immer weiter ausweitenden Krieg gegen die Parteien führen. Arthur M. Schlesinger, Jr., The Cycles of American History, Boston 1986, S. 266 ff. Die Parteien sind heutzutage stärker, aber nicht nur, weil sie professioneller geführt werden und über mehr Geld verfügen. Es liegt auch daran, daß sie besser als früher in der Lage sind, auf das Ergebnis von Wahlen und das Verhalten der Regierung Einfluß zu nehmen - und zwar mehr als jeder andere Akteur im politischen Geschehen. Das Gesetz über die Wahlkampffinanzierung hatte das Ziel, die Einflußnahme von Interessengruppen in Grenzen zu halten, und den Parteien gelingt es jetzt in der Tat besser, sich ihnen gegenüber zu behaupten. Das Gesetz hat die Kandidaten dazu gebracht, sich stärker auf die Parteien zu stützen; die Parteien wiederum haben die Rolle des Wahlkampfhelfers übernommen und dadurch ein immer stärkeres Mitspracherecht bei der Auswahl der Bewerber erhalten. Der Entstehung starker, professionell geführter Parteien gingen fünf Jahrzehnte der Parteireformen voraus, welche ihre Organisationsstruktur dermaßen schwächten, daß sie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts anfangs kaum noch lebensfähig war. […] Ob es den Parteien gelingen wird, die nachfolgenden Generationen an sich zu binden, hängt davon ab, was sie diesen zu bieten haben. Das wird in Zukunft die entscheidende Frage sein. Loyalität muß verdient werden, und dabei wird es darauf ankommen, was für Kandidaten die Parteien aufbieten können und wofür diese eintreten. Wie stark eine Partei ist, zeigt sich vor allem darin, welchen Einfluß sie auf die Nominierungen hat, inwieweit es ihr im Wettbewerb mit anderen Gruppierungen gelingt, Unterstützung zu finden, und in welchem Ausmaß sie auf die politischen Institutionen Einfluß ausüben kann. Sind diese Voraussetzungen überzeugend erfüllt worden, dann werden die Wähler der Partei ihre Unterstützung zukommen lassen; im voraus wird dies jedoch nicht geschehen. […] Das soll nur heißen, daß der Weg vorgezeichnet ist, aber nicht, daß er einfach zu gehen sein wird. Es ist nicht gesagt, daß es starken, professionell geführten Organisationen in Washington gelingen wird, den alten Glauben an uns selbst und an unsere Institutionen wiederherzustellen. Diese Organisationen werden jedoch imstande sein, neue Strukturen aufzubauen; sie werden die Bürger direkt ansprechen und wieder dazu bringen, sich für das politische System zu engagieren. […] 1971 schrieb David Broder das Buch The Party’s Over. In den darauffolgenden Jahren veröffentlichten Journalisten und Politikwissenschaftler weitere Bücher über das Parteiensterben. 1984 erschien von Martin P. Wattenberg ein Buch mit dem Titel The Decline of American Political Parties: 1952-1980, das vermutlich die letzte Veröffentlichung dieser Art darstellte. Noch im selben Jahr erschien von dem Politikwissenschaftler David E. Price, der später für die Demokratische Partei gearbeitet hat, ein Buch mit dem Titel Bringing Back the Parties. Unter den Politikwissenschaftlern, die sich mit den Parteien befassen, bildet sich möglicherweise ein neuer Konsens heraus. […] Eines scheint sicher zu sein: Parteien wird es weiterhin geben. Xandra Kayden/Eddie Mahe, The Party Goes On, The Persistence of the Two-Party System in the United States (übersetzt von Rüdiger Hipp), New York 1985, S. 183 ff. * (Politisch-religiöse Bewegung, die dezidiert konservativ-christliche Standpunkte vertritt. Ihre Anhänger treten etwa gegen liberale Abtreibungsgesetze und die Verbesserung der Rechte Homosexueller ein.) Zukunft der Parteiendemokratie Seit Jahren wird im Lager der amerikanischen Sozialwissenschaften eine überaus differenzierte Debatte zum Thema "Zerfall oder (Re-)Konsolidierung des US-Parteiwesens" geführt. Kritiker der Parteiszenerie beklagen den Mangel an parteilicher Disziplin und Zusammenhalt (etwa im Miteinander von Präsident und Kongreßmehrheit, das auch bei gleicher Parteizugehörigkeit häufiger ein "Gegeneinander" zu sein scheint). Sie monieren das Fehlen klarer Alternativen in Programmatik und Politik der rivalisierenden Traditionsparteien und verweisen insgesamt auf wachsende Ineffizienz und Legitimitätsdefizite im politischen System der USA. So hat schon in den sechziger Jahren der renommierte Politikwissenschaftler James D. Burns den Zustand der amerikanischen Parteiendemokratie in düsteren Farben gemalt und viel diskutierte Reformvorschläge unterbreitet. Diese zielen auf die Etablierung einheitlicher politischer Führungen, die Berechenbarkeit politischer Entscheidungen, die Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative und die Transparenz der politischen Willensbildungsprozesse ab, ohne die der Öffentlichkeit keine ausreichenden Kontrollchancen gegenüber den Regierenden zur Verfügung stünden. Amerika brauche zwei nationale Präsidentschaftsparteien, die künftig auf allen Politikebenen den Wettbewerb um Wählerstimmen mit Hilfe einer einheitlichen Programmatik bestreiten, im Kongreß den Trend zur entscheidungshemmenden Flügelbildung überwinden und damit auch dem Weißen Haus gegenüber verläßliche Kooperationsmuster stiften sollten. Zu diesem Zwecke müßten die Parteiorganisationen hierarchisch gestrafft und auf den Sockel einer formalisierten Bismitgliedschaft gestellt werden. Zudem müßten parlamentarische Reformen zugunsten einer straffen Fraktionsdisziplin durchgeführt werden. Die nationalen Wahlen sollten einer Bundesreglementierung unterworfen werden, wobei neben dem Wahlmännerkollegium auch das Verbot der mehrfachen Wiederwahl des Präsidenten abzuschaffen sei. In den achtziger Jahren haben sich die Auseinandersetzungen um das Parteiwesen intensiviert. Es versage, so die Kritiker, vor der Aufgabe, rechtzeitig Lösungen für neue Probleme im Bereich der Innen- und Außenpolitik anzubieten und sie durch wirksame Handhabung der Herrschaftsinstrumente in politische Entscheidungen umzusetzen. Die Parteien befänden sich in Auflösung, wodurch das Funktionieren des politischen Systems gefährdet würde. Verschiedene Reformvorschläge wurden propagiert, aber nicht weiter verfolgt. Der Grund dafür war und ist offenkundig: In einem Land, dessen politische Kultur von einem ausgeprägten Bewußtsein für Traditionen geprägt ist, sind weitreichende Reformen sehr schwer zu verwirklichen, um so weniger, wenn sie etablierte Machtpositionen in Frage stellen. Freilich werden auch gegenteilige Positionen vertreten, die eine Rekonsolidierung und Revitalisierung des amerikanischen Parteiwesens ausmachen wollen. Solche Stimmen verweisen auf wachsende programmatische Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern, die von einigen Autoren gar als "ideologische Polarisierung" bezeichnet werden. Letztere hätten im Zeichen der Reagan-, Bush- und Clinton-Administrationen auch zu einem einheitlicheren Abstimmungsverhalten der Kongreßfraktionen geführt, was die Wählerorientierung erleichtert. Vor allem lasse sich aber auf allen Politikebenen ein Prozeß der Konsolidierung der Parteien beobachten, dem es um eine wirksame Organisation des Parteiapparates gehe. So haben sich in der Tat die Qualität und Intensität der politischen Partizipation an der Basis der Parteien im Gefolge der Bürgerrechts-, Studenten- und Anti-Vietnam-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre verändert. Junge Politikaktivisten, weniger an Patronage als an programmatischen Fragen interessiert, haben d alten Parteifunktionäre und deren Pragmatismus an die Seite gedrängt. Sie haben damit aber auch das Profil der Partei(en) vor Ort geschärft und die Partei als eigenständige Größe in Kommune, Kreis, Land und Bund erfahrbar gemacht. So existieren heute in allen fünfzig Einzelstaaten Republikanische Organisationen, die mit der aus früherem Dornröschenschlaf erwachten Parteizentrale in Washington, dem Republican National Committee (RNC) wenigstens ansatzweise zusammenarbeiten. Die drei nationalen Parteikomitees der Republikaner - neben dem RNC gibt es in beiden Häusern des Kongresses parallele Institutionen, die die parlamentarischen Wahlkämpfe zu organisieren, mindestens zu beeinflussen suchen -, haben in den letzten Jahren hohe Spendensummen für Wahlkampfzwecke eingetrieben. Darüber hinaus haben sie sich zunehmend um die Kandidatenauslese und -schulung für öffentliche Ämter bemüht und durch nationale Werbekampagnen ihre Präsenz deutlich zu machen versucht. Auch bei den Demokraten sind ähnliche Ansätze zu beobachten, ohne daß die Partei organisatorisch augenblicklich mit dem Republikanischen Rivalen konkurrieren könnte. Freilich sind die erwähnten Rekonsolidierungstendenzen im Parteiwesen insgesamt noch keine ausreichende Therapie für die tiefreichenden Krisenphänomene. So sind die national committees der Demokraten und Republikaner - und gleiches gilt für die parallelen Koordinierungsinstitutionen in beiden Häusern des Kongresses - letztlich bis heute nur effiziente Dienstleistungsunternehmen für Wahlkämpfe und Wahlwerbung geblieben. Sie sind nicht zu politikformulierenden und interessenvermittelnden Organisationen fortentwickelt worden, die etwa die Beobachtung oder gar die Umsetzung der Wahlprogramme der Parteien in der Politik der Einzelstaaten oder des Bundes erzwingen könnten. Aus europäischer Perspektive bleiben auch die revitalisierten nationalen Parteien vergleichsweise fragmentierte Gebilde. In Anbetracht der zunehmenden Personalisierung und Individualisierung der amerikanischen Wahlkämpfe erscheinen gelegentlich geäußerte Erwartungen unrealistisch, daß aus den lokal, regional und nach Gruppen aufgesplitterten Parteien ein straff organisiertes und nationale Prioritäten setzendes Parteiwesen hervorgehen wird. Interessenverbände Von Anbeginn der Republik haben sich in den USA gesellschaftliche Vereinigungen verschiedenster Prägung in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet und ihre Ziele im politischen Willensbildungs- und Herrschaftsprozeß verfolgt. Wo man in Deutschland den Staat als eine der Gesellschaft übergeordnete Institution und vor Einzelinteressen tunlichst abzuschirmende Gemeinwohlsphäre begriff, wo man von einer "homogenen" Volksgemeinschaft träumte, haben die Amerikaner stets den pluralistischen Charakter des öffentlichen Lebens verteidigt und den Staat eher als Dienstleistungsorgan der Gesellschaft verstanden.. Erst seit unserem Jahrhundert prägen aber Interessenverbände als moderne, auf Dauer angelegte, durchrationalisierte und ständig Einfluß ausübende Organisationen den Charakter der amerikanischen Politik. Seit dem Ersten Weltkrieg und den Tagen des New Deal sind auch in Amerika regulierende Staatseingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft zur alltäglichen Erscheinung geworden. Wo aber der Staat durch Aufträge, Subventionen, durch Konjunktur- und Steuermaßnahmen, durch unzählige gesetzliche und Verwaltungsvorschriften auf die Wirtschaft einwirkt, wo er soziale Leistungen verteilt, müssen gesellschaftliche Gruppen stetig und rationell politische Entscheidungsprozesse beeinflussen, um Maßnahmen herbeizuführen, die sie begünstigen, und um sich ihren Anteil an staatlichen Leistungen zu sichern. Um angesichts der Vielfalt der Gruppierungen nicht den Überblick zu verlieren, klassifizieren Sozialwissenschaftler spezifische Verbandstypen. Zu den traditionellen Gruppen mit primär ökonomischer Orientierung gehören:
Hinzu kommen Organisationen zumeist jüngeren Ursprungs, die überwiegend allgemeine oder öffentliche Interessen vertreten. Bei diesen Gruppen wird unterschieden zwischen:
Als zahlenmäßig größte pressure group (wörtlich: Druckgruppe) treten heute mit ca. 19 Millionen Mitgliedern die Gewerkschaften in Erscheinung, die sich überwiegend als pragmatische Organisationen zur Beförderung materieller Arbeitnehmerinteressen verstehen. Die Gewerkschaften in den USA leiden allerdings an wachsendem Mitgliederschwund. Hinzu kommt, daß in den wirtschaftlich expandierenden Regionen der USA, dem Süden und Südwesten, Gewerkschaften angesichts der dort ausgeprägten Dominanz einer gewerkschaftsfeindlichen Ideologie nur sporadisch Fuß fassen konnten. Wie die Gewerkschaften weisen auch die Arbeitgeberverbände dezentral-fragmentierte Strukturen auf und artikulieren sich in Washington über mehrere Spitzenorganisationen, Wirtschaftsclubs, oder, so vor allem die Großunternehmen, durch eigene Büros und Anwaltskanzleien. Sie, die jahrzehntelang jede gewerkschaftsfreundliche Politik mit der Parole vom "schleichenden Sozialismus" erbittert bekämpft haben, stellen heute jedenfalls keinen monolithischen Block mehr dar, der die Wirtschaftspolitik der USA mit eindeutigen Zielvorgaben beeinflussen könnte. Im Chor der Interessengruppen ist die Landwirtschaft vielstimmig vernehmbar, verhindert doch die geographisch-klimatische Zonenvielfalt (und die daraus erwachsenden agrarischen Interessenunterschiede) eine einheitliche "Grüne Front". Freilich ist mit dem Rückgang der in der Landwirtschaft Beschäftigten von ursprünglich 85 auf heute weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung der Einfluß der agrarischen Lobby auf die Bundespolitik geringer geworden. Neben den Großverbänden behaupten sich im pluralistischen Konzert bis heute Organisationen, die kleinere Berufsgruppen wirkungsvoll vertreten: Ärzte- und Anwaltsverbände etwa, die Einfluß auf die Gesundheits- und Rechtspolitik des Landes nehmen und die Personalpolitik "ihrer" Ministerien mitbestimmen. Neben den etablierten pressure groups gibt es eine große Anzahl von Organisationen jüngeren Ursprungs. Sie wollen gesamtgesellschaftlichen Problemen und öffentlichen Mißständen zu Leibe rücken und agieren unter einprägsamen Etikettierungen wie Common Cause (Gemeinsame Sache) oder Christian Voice (Christliche Stimme, die den "unamerikanischen" Wertewandel in den USA bekämpfen will). Als jüngere Variante des traditionellen Lobbyismus muß noch auf die political action committees (PACs) verwiesen werden. In den dreißiger Jahren als politische Speerspitze der Gewerkschaften entstanden, hat sich ihre Zahl mit der Reform der Wahlfinanzierung in den sechziger Jahren vervielfacht. Diese Reform verbot nämlich direkte Zahlungen von Wahlkampfgeldern an Kandidaten durch Aktiengesellschaften und Gewerkschaften. Wirtschaftsverbände und einzelne Unternehmen gründeten PACs, über die sie, quasi indirekt, Kandidaten ihrer Wahl bis zu 5000 Dollar pro Vor- und Hauptwahl zukommen lassen können. Im wesentlichen haben diese PACs Aufgaben übernommen, wie sie im parlamentarischen System etwa der Bundesrepublik Parteien ausüben: Sie sammeln und verteilen Wahlspenden, führen Meinungsumfragen für die von ihnen Unterstützten durch, entwerfen Wahlkampfstrategien oder bilden Wahlkampfmanager aus. Die Tätigkeit der PACs geht zumeist den Lobbybemühungen der Interessengruppen voraus, öffnet den mit ihnen verbundenen pressure groups die Türen zu einflußreichen Abgeordneten, Senatoren, Kongreßausschüssen oder Fraktionszirkeln in Washington. Aktivitäten der Interessengruppen Die Rolle der Interessenverbände im Gesetzgebungsprozeß und die herrschende Rechtsordnung zur Regelung der Verbändetätigkeit sind heute nur geringfügig anders als noch vor 30 Jahren. Mit den erwähnten institutionellen Reformen der siebziger Jahre - Dezentralisierung, Demokratisierung und Öffnung des Kongresses - ist jedoch die dann gelegte fundamentale quantitative Änderung - Zahl der Verbände, Umfang ihrer Forderungen sowie Intensität ihrer Aktivitäten - einhergegangen. […] Zunächst einmal haben wir es heute ganz eindeutig mit einer viel höheren Ungewißheit im politischen Entscheidungsprozeß als noch vor 20 Jahren zu tun. Bedingt durch mehr Interessenverbände, einen offeneren Kongreß und die enorme Aufmerksamkeit, die seitens der Medien den internen Debatten politischer Institutionen geschenkt wird, verschieben sich Bündnisse stets in einer unvorhersehbaren Weise, wobei politische Schlüsselfiguren plötzlich an den ungewöhnlichsten Stellen auftauchen. […] Die raschen Veränderungen bedeuten freilich, daß die meisten politischen Akteure - im Gegensatz zu früheren Jahren - weniger Möglichkeiten haben, die Tagesordnung der politischen Gremien zu kontrollieren, das heißt: es ist nicht gewiß, welche Themen bis zum Ende des Verfahrens durchdiskutiert werden und welche gar nicht erst zur Sprache kommen. Die neue Offenheit des Kongresses ist neben dem freedom of information act sowie anderen Gesetzen und Verordnungen, ferner der beträchtlichen Zunahme journalistischer Tätigkeit in Washington und einer neuartigen Aggressivität der Berichterstattung […] ein Grund für die zweifellos gestiegene Unzufriedenheit der Bürger mit dem politischen Prozeß im allgemeinen; kommt hinzu, daß die Verwirrung über eine derartig fließende und offene Politik des Kongresses - die Unberechenbarkeit politischer Entscheidungen, die Umkehr auf einmal eingeschlagenen Wegen, die Enthüllung des traditionellen log rolling (dem zeitweisen überparteilichen Bündnis von Kongreßabgeordneten zur Durchsetzung gemeinsamer Gruppeninteressen), das Schließen von Kompromissen, das Betreiben reinsten Kuhhandels und Verbindungen finanzieller Art, die sich zwischen Gesetzgebern und Interessenverbänden insbesondere im Bereich der Wahlkampffinanzierung auftun - der Identifikation des Bürgers mit seinem System nicht unbedingt zuträglich ist. […] Im Sinne der amerikanischen Gründerväter ist mehr Offenheit des politischen Systems sowie verstärktes Engagement von Interessengruppen begrüßenswert. Mehr Verbände und größere Verbändeaktivitäten können zwar […] letztlich zum ”Stillstand” des politischen Prozesses führen, andererseits sind sie, im Sinne Madisons, das beste Mittel, Schaden innerhalb und zwischen politischen Gruppierungen zu begrenzen. Jedenfalls haben die zahlreichen Political Action Committees (PACs) sowie die rege Tätigkeit der Interessenverbände nicht dazu geführt, daß von einer ”Herrschaft der Unternehmensverbände” gesprochen werden kann; vielmehr ruft ein ernst zu nehmender Wirtschaftsverband geradezu automatisch ein oder mehrere Gegenvereinigungen auf den Plan. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Im ”alten” Washington, um in der Terminologie zu bleiben, wurde der Kommunikationsmarkt von der Telefongesellschaft AT&T geradezu monopolistisch beherrscht; im ”neuen” Washington hat sich das Bild geändert und zumindest zu einem Oligopol entwickelt, in welchem Gesellschaften wie ITT, GTE, MCI und einige andere ein Gegengewicht zu der ehemals allmächtigen AT&T darstellen. […] Jedoch verlief die Interessenverbandsexpansion nicht für alle Bereiche einheitlich. Betrachtet man den rein quantitativen Aspekt des Mitgliederzuwachses, so wird man feststellen, daß Kapitalgesellschaften, Wirtschafts- und Handelsverbände den größten Zuwachs verzeichneten. Dagegen existieren nach Angaben des Senators Bob Dole nur wenige PACs oder organisierte Gruppen, die sich der Bedürfnisse jener Armen und Benachteiligten annehmen, die auf Fürsorge angewiesen sind. Nicht nur, daß sich die übermächtigen wirtschaftlichen Interessen gegenseitig im Zaum halten, umfaßt gerade ein derart dezentralisierter Kongreß unausweichlich immer auch einige einflußreiche Abgeordnete, die die Belange der Benachteiligten unterstützen und zumindest in der Lage sind, weitere Verschlechterungen ihrer Situation zu verhindern. Anders formuliert: Ungeachtet der offensichtlichen und beträchtlichen Kosten dieser Entwicklung könnte man argumentieren, daß in dem neuen, offeneren politischen System ein Schritt in die Richtung gemacht wurde, die bundesstaatlichen Institutionen in eine ”Schmiede der Demokratie” zu verwandeln, wie dies von den Gründungsvätern gewünscht war. Diese hatten gehofft, daß die Vielfalt der spezifisch engen Einzelinteressen jeweils zu so etwas wie einem nationalen Gesamtinteresse zusammenzuschmieden sei. Es dauert länger […] und es bereitet viele Frustationen - es funktioniert aber nicht nur schlecht. Uwe Thaysen/Roger H. Davidson/Robert G. Livingston (Hg.), US-Kongreß und Deutscher Bundestag, Opladen 1988, S. 294 ff. Verbandseinflüsse Wo sich Herrschaft demokratisch legitimiert, spielt die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle bei politischen Entscheidungen. Folgerichtig versuchen pressure groups die öffentliche Meinung im Sinne ihrer jeweiligen Interessen zu beeinflussen. Publikumsorientierte Propaganda gilt als Ausfluß des Rechts auf Meinungs- und Redefreiheit und somit als bloße Selbstverständlichkeit. Sie wird nach bisheriger Erkenntnis in dem Maße Wirkung hervorrufen, wie sie ihre Forderungen in überkommene Werthaltungen und Ideologien einbetten kann. So versuchte die Amerikanische Ärztevereinigung (American Medical Association) die Gesellschaft gegen staatliche Eingriffe in das Gesundheitswesen mit dem Gespenst des "Sozialismus" zu mobilisieren, verbinden Gewerkschaften wie Bauernverbände ihre öffentlichen Forderungen mit Begriffen, die in der Bevölkerung "positiv besetzt" sind. Parteien Wer politische Entscheidungen herbeiführen oder verhindern will, wird auch Einfluß auf die Parteien zu gewinnen suchen. Beziehungsmuster zwischen Parteien und Interessengruppen können beträchtlich variieren. Im Unterschied etwa zur Situation in Deutschland dominiert in den USA das überparteiliche Muster. Denn es fehlen jenseits des Atlantiks scharf konturierte ideologische Gegensätze, was sich in der pragmatischen Haltung der Parteien ebenso wie im relativ undogmatischen Gebaren des amerikanischen Gewerkschafts- und Unternehmensmanagements niederschlägt. Zudem läßt der ausgeprägte Föderalismus sehr flexible Beziehungen zwischen pressure groups und Parteien zu: Wenngleich Gewerkschaften im allgemeinen eher mit den Demokraten, Wirtschaftsverbände lieber mit den Republikanern paktieren, kommt es doch immer wieder zu "abweichenden" Kooperationsformen, suchen die Verbände nach Möglichkeit Kontakte zu beiden großen Parteien. Wer sich Parteien und künftige Abgeordnete verpflichten will, nutzt ihre schwachen Stellen: das Geld und die Sorge um den Erhalt oder den Neugewinn des Wahlkreises. In den USA leben die Parteien fast ausschließlich von Spenden, wobei die Republikaner diesbezüglich als "Partei der Reichen" gelten, weil sie im allgemeinen einen erheblich größeren Strom an Zuwendungen von einzelnen und Gruppen auf ihre Mühlen leiten können. So haben im Jahrzehnt von 1978 bis 1988 die Republikaner die Höhe der auf ihr Konto fließenden Spenden von 85 Millionen Dollar auf 263 Millionen Dollar steigern können. Bei den Demokraten stieg das Spendenaufkommen im gleichen Zeitraum von 26 auf 128 Millionen Dollar. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, wie man das Ohr von Parteien und Kandidaten für verbandspolitische Anliegen gewinnen kann: durch Mobilisierung des eigenen Mitgliederpotentials am Wahltag etwa oder durch technische Hilfestellung bei der Organisation des Wahlkampfes, die von der Überstellung "freiwilliger" Helfer bis zum stenlosen Druck von Broschüren reichen kann. Insgesamt neigt aber die moderne Wahlforschung dazu, den Verbandseinfluß auf Wahlen nicht allzu hoch zu veranschlagen und verweist angesichts des heterogenen Charakters der US-Parteien auch auf Grenzen beim Versuch, Demokraten oder Republikaner für Verbandszwecke einzuspannen. Nicht zuletzt deshalb setzen die pressure groups die Hebel der Einflußnahme vor allem dort an, wo die politischen Entscheidungen fallen, bei der dreigeteilten Staatsgewalt nämlich. Wahlkampfkosten Offiziell verfügen die beiden Kandidaten, Präsident Bill Clinton und der ehemalige Senator Bob Dole, über den gleichen Betrag, der durch das Wahlfinanzierungsgesetz von 1974 festgelegt ist und in diesem Jahr 74 Millionen Dollar beträgt. Zu dieser Summe aus Steuergeldern kommen noch 12,4 Millionen Dollar für jeden, um die Kosten für die ”Conventions”, die Nominierungsparteitage, auszugleichen. Doch diese Wahlfinanzierung aus Steuermitteln, mit der der Einfluß der Unternehmen auf die Politik zurückgedrängt werden soll, macht nur den geringeren Teil der Wahlkampfmittel aus. In die Kassen der Parteien fließen seit Monaten Ströme von ”weichem Geld” (soft money). Nach Schätzungen der ”New York Times” werden die Demokraten und die Republikaner jeweils bis zu 150 Millionen Dollar dieses ”weichen Geldes” zur Verfügung haben. Diese Summe setzt sich aus Spenden von Firmen zusammen, die sich eine Lücke im Wahlgesetz zunutze machen: Spenden an Präsidentschaftskandidaten sind zwar für Privatpersonen auf 1000 Dollar und für Unternehmen auf 5000 Dollar beschränkt. Erlaubt aber sind unbegrenzte Spenden an die Parteien. […] Zu den größten Gebern gehören Branchen, die stark von staatlichen Aufträgen abhängig sind. So sollen Telekommunikationsunternehmen bisher 4,6 Millionen gleichmäßig auf beide Parteien verteilt haben. Auch die Tabakindustrie ist mit 4,6 Millionen dabei, wovon allerdings 3,9 Millionen nach Angaben der ”New York Times” an die Republikaner und nur 714000 Dollar an die Demokraten gingen. Die haben dagegen eher bei Anwaltsverbänden und der Unterhaltungsindustrie - vor allem in Hollywood - einen Stein im Brett. Nach Angaben der Bürgervereinigung ”Common Cause” spendete zum Beispiel Walt Disney 532000 Dollar in die ”Kriegskasse” der Demokraten. Zu den öffentlichen Mitteln und dem ”weichen Geld” kommen noch die Spenden, die in den vom Gesetz vorgeschriebenen Grenzen liegen. Nach den Parteitagen im August haben Demokraten wie Republikaner massenhaft Bettelbriefe losgeschickt. Den Rücklauf schätzen Experten auf eine zwei- bis dreistellige Millionensumme. […] Das Wahlgesetz hindert nämlich niemanden daran, von sich aus Werbung für die Politik des ihm genehmen Bewerbers zu machen. So hat der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO 35 Millionen Dollar für eine Kampagne bereitgestellt, mit der Clintons Politik unterstützt werden soll. […] Rechnet man alle bereits überwiesenen und die noch zu erwartenden Summen zusammen, dann kann der Präsidentschaftswahlkampf leicht 600 bis 700 Millionen Dollar kosten - also rund eine Milliarde Mark. Martin Winter, ”Massenhaft ,weiches Geld‘ für US-Parteien”, in: Stuttgarter Zeitung vom 11. September 1996. Legislative Um die Jahrhundertwende konzentrierten sich pressure groups in erster Linie auf den Kongreß, der damals unbestrittenermaßen das Zentrum der politischen Macht verkörperte. Mit allen Mitteln der Bestechung, Erpressung, Drohung und Verlockung versuchten Verbände den Willensbildungsprozeß der Legislativen auf bundes-, einzelstaatlicher und lokaler Ebene bei der Vergabe von riesigen Ländereien an Eisenbahngesellschaften, bei der Festsetzung von Schutzzöllen und Bergwerksrechten, der Gewährung von Staatsdarlehen oder der gesetzlichen Regelung des Korporations(un)wesens in die gewünschte Richtung zu lenken. Nicht zufällig sind Begriffe wie Lobby, Lobbyismus und Lobbyist auf dem parlamentarischen Feld der Verbandsaktivitäten entstanden, weil die Wandelhalle (Lobby) der Parlamente einen wichtigen Schauplatz für Kontakte und Kommunikation zwischen Abgeordneten und Interessenvertretern darstellte. Seit jener Zeit hat sich in den USA (wie in Europa) das Gewicht der Macht stärker zur Exekutive und Bürokratie hin verlagert, weshalb die pressure groups heute ihre Aufmerksamkeit nicht mehr so ungeteilt den Parlamenten zukommen lassen. Auch haben sich die Methoden der Einflußnahme verfeinert, weil moderne Parlamente auf den Holzknüppel und plumpe Bestechung ablehnend reagieren. Nach wie vor bildet aber der US-Kongreß einen so ernstzunehmenden Umschlagplatz von Entscheidungen, daß die amerikanischen Interessenorganisationen auch weiterhin auf vielerlei Weise dort ihren Willen äußern und Einfluß zu nehmen versuchen. Wer in den USA die parlamentarische Arbeit beeinflussen will, muß angesichts der schwach entwickelten Parteidisziplin zunächst einmal Kontakte zu Abgeordneten knüpfen, nach Möglichkeit zu Mitgliedern beider Fraktionen. Dabei eröffnen die Bereitstellung von Informationen, Sachverstand und erwünschten Dienstleistungen viel günstigere Erfolgschancen als rüde Druckversuche oder Bestechungsmanöver. Im allgemeinen leihen auch bloß solche Abgeordnete ihr Ohr für ein spezifisches Anliegen, die ohnehin mit dem dahinterstehenden Verbandsinteresse sympathisieren. Kontakte zu Abgeordneten werden durch grass roots lobbying auf der Wahlkreisebene etabliert; man konfrontiert sie dort mit den eigenen Verbandsforderungen oder bringt sie ihnen über (zumeist vorgefertigte) Briefe von Einzelpersonen des Wahlkreises nahe. Zum anderen sucht man den direkten Draht zu den Entscheidungsträgern in Washington. Zu diesem Zweck unterhalten mehr als 7000 pressure groups eigene Büros oder Agenturen in der amerikanischen Hauptstadt. Neben einzelnen Abgeordneten müssen viele Ausschüsse des Kongresses "bearbeitet" werden, in denen die gesetzgeberische Arbeit geleistet wird. Anders als in der Bundesrepublik ist den pressure groups der unmittelbare Zugriff auf die Machtpositionen der Komitees verwehrt, erschwert doch das amerikanische Mehrheitswahlrecht Wahlkreiskandidaturen bloßer Verbandsexperten und blockiert das Senioritätsprinzip Versuche, die Bestellung von Ausschußvorsitzenden nach verbandspolitischen Interessen zu manipulieren. Lobbyisten müssen also Vorsitzende und einflußreiche Mitglieder von Ausschüssen von außen her für ihre Sache gewinnen, was schon insofern kluges Manövrieren erfordert, als an der Formulierung eines Gesetzentwurfes mehrere, oft unterschiedlich orientierte Ausschüsse in beiden Häusern des Kongresses mitwirken. Dabei ist es leichter, bestimmte Vorhaben zu verhindern als Initiativen durchzusetzen: Die Macht der Verbände reicht selten aus, ihre eigenen Interessen unverfälscht durchzusetzen. Wohl aber können sie im allgemeinen Forderungen von Konkurrenten neutralisieren. Das ausgeklügelte System der checks and balances erleichtert die Verteidigung der bestehenden Zustände und erschwert die Verwirklichung einer reformerischen Politik oder die Durchsetzung einseitiger Interessen. Regierung und Verwaltung Mit der Expansion des amerikanischen Interventionsstaates ist die Exekutive für die Interessengruppen zur wichtigsten Anlaufstelle neben dem Kongreß geworden. Dies hat zum einen damit zu tun, daß ein großer Teil der Gesetzentwürfe von der Exekutivbürokratie ausgearbeitet wird. Da in dieser ersten Phase des Gesetzgebungsprozesses häufig weichenstellende Entscheidungen getroffen werden, sind die Verbände daran interessiert, sich frühzeitig über die Einzelheiten der geplanten gesetzgeberischen Maßnahmen zu informieren und gegebenenfalls ihre Interessen gegenüber der Verwaltung zu erläutern. Zum anderen gehört die Bürokratie in den USA (wie anderswo) deshalb zu den Hauptadressaten des Verbandseinflusses, weil sie beim Gesetzesvollzug über weitreichende Beurteilungs- und Ermessensspielräume verfügt. Stärker als im Kongreß operieren die Interessenverbände im exekutiven Bereich durch "eingebaute" Lobbyisten, durch Minister, Unterstaatssekretäre oder Abteilungsleiter, die sich mit ihren Anliegen identifizieren. Der Gewerkschaftsverband AFL/CIO (American Federation of Labor/Congress of Industrial Organisations) betrachtet das Arbeitsministerium (Department of Labor) ebenso als "Haus"-Ministerium wie die Wirtschaftsverbände das Wirtschafts- und Handelsministerium (Department of Commerce) oder die Organisationen der "Grünen Front" das Landwirtschaftsministerium (Department of Agriculture). Solche Ministerien sind mindestens teilweise unter dem Druck interessierter Verbände eingerichtet worden. Auch ihr Personal, mindestens in den Spitzenpositionen, wird in der Regel durch Absprachen zwischen dem Präsidenten und "anspruchsberechtigten" Organisationen unter duldender Zustimmung des Kongresses ausgelesen. Dabei nimmt man in Kauf, daß ein Minister gelegentlich in Loyalitätskonflikte gestürzt wird, wenn das Verbandsinteresse mit Zielen des Regierungschefs kollidiert. Im Zweifelsfall wird sich der Präsident ohne viel Federlesens eines Kabinettsmitglieds entledigen, das die Gewichte der Loyalität falsch tariert. Neben den Ministerien stellt die Behördenvielfalt der USA den bevorzugten Aktionsraum von pressure groups dar: die Ämter, Agenturen und "unabhängigen Regulierungskommissionen", die als Kontroll- und Schiedsbehörden in wichtigen Wirtschaftsbereichen (Energie-, Verkehrs-, Handelssektor usw.) wirken sollen, im allgemeinen aber auch Schutzfunktionen für einschlägige Interessen ausüben. Freilich muß man dabei berücksichtigen, daß ohne die Mitarbeit der organisierten Interessen, ohne ihren Sachverstand und ihr Informationspotential heute der Regierungsapparat nicht mehr angemessen funktionieren kann. In einem strikt gewaltenteiligen Herrschaftssystem rücken pressure groups oft genug zu Verbündeten der Exekutive auf, die ihre Ziele öfter gegen als mit einem auf Selbständigkeit bedachten Kongreß verwirklichen muß. Wie wenig anstößig der Lobbyismus generell den Amerikanern erscheint, belegen auch Karrieremuster, die von deutschen Gepflogenheiten abweichen: Das Überwechseln von Wirtschaftsmanagern und Verbandsfunktionären in Verwaltungspositionen, der Elitenaustausch zwischen Wirtschaft und Bürokratie, Kultur und Politik ist an der Tagesordnung. Wo der Kastengeist und das "Ochsentour"-Denken eines gewachsenen Berufsbeamtentums fehlen, ist unkonventioneller Umgang zwischen Regierenden und Lobbyisten eine Selbstverständlichkeit. Daß der organisierte Pluralismus auf mancherlei Wegen auch die richterliche Gewalt für Einzelinteressen einzunehmen versucht, sei wenigstens angemerkt. Allerlei Möglichkeiten tun sich bei Auslese und Bestellung des Richterpersonals auf, die vor allem von der American Bar Association, der Anwaltsvertretung, genutzt werden. Daneben spielt gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur indirekten Beeinflussung richterlicher Urteilsfindung (Massenpetitionen, Demonstrationen usw.) eine gewisse Rolle. Ob Verbandseinfluß auf die Judikative legitim sei, ist allerdings unter Amerikanern umstritten, wie es überhaupt trotz aller prinzipiellen Bejahung des Pluralismus auch mancherlei Vorbehalte gegen konkrete Erscheinungsformen der pressure groups gibt. Rechtliche Einordnung Die Amerikaner haben in diesem Jahrhundert in Bund und Einzelstaaten immer wieder versucht, die Beziehung der Verbände zu den politischen Institutionen zu regeln und den Lobbyismus durch gesetzliche Vorschriften offenzulegen, um auf diese Weise jenen Gefahren für den Staat zu begegnen, die aus dem schrankenlosen Treiben der pressure groups entstehen können. Die Institutionalisierung der Verbände, das heißt ihre formelle Einbindung in politische Entscheidungsprozesse, vollzieht sich hauptsächlich durch Anhörungen (hearings) in Parlamentsausschüssen, die nach einer geschäftsordnungsmäßigen Verfahrensregel durchgeführt werden. Durch Anhörung aller an einem Gesetz interessierten Organisationen soll der Verbändeeinfluß kanalisiert und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit des politischen Systems durch Schaffung gesellschafts- bzw. praxisnaher Gesetze erhöht werden. Langjährige Versuche zur Offenlegung des Verbandseinflusses gipfelten 1946 im Federal Regulation of Lobbying Act (Lobbyistengesetz). Es will nicht bloß die Lobbyisten im Umkreis des Kongresses erfassen, sondern auch ihre Geld- und Auftraggeber kenntlich machen. Wer die Legislative über direkte Kontakte mit Abgeordneten und Senatoren beeinflussen will, muß sich registrieren lassen, über Auftraggeber wie Finanzmittel Buch führen und dem Kongreß alle drei Monate in eidesstattlicher Form Bericht erstatten, der auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Freilich erreichen solche Regelungen die gesteckten Ziele nur unvollkommen. Eindringliche Analysen der Anhörungen haben gezeigt, daß sie weder die Intensität des informellen Lobbyismus, also die Dichte der persönlich-vertraulichen Kontakte zwischen Interessenvertretern und Politikern, wesentlich verringern, noch gar die Meinungsbildung im Kongreß entscheidend gestalten. Dies schon deshalb nicht, weil die Kapazität der Informationsverarbeitung bei den Abgeordneten selten ausreicht, um sich im Labyrinth der vielfältigen und widersprüchlichen Stellungnahmen von (unterschiedlichen) Verbandsexperten zu einem Gesetzentwurf zurechtzufinden. Was die gewünschte Transparenz anbelangt, so weisen die einschlägigen Gesetze viele Schlupflöcher auf. Es fehlt etwa an einer speziellen Behörde, welche die Einhaltung der Rechtsnormen kontrollieren könnte (der Apparat des Justizministeriums reicht für aufwendige Ermittlungen gegen Lobbyisten nicht aus). Findigen Verbandsvertretern eröffnen sich genügend Möglichkeiten, um "indirt" die parlamentarische Willensbildung zu beeinflussen und so die Registrier- und Auskunftspflicht zu unterlaufen. Ende 1989 hat der Kongreß erneut versucht, Interessengruppen einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen. Zum einen wurde Firmen, die Bundeszuschüsse oder Regierungsaufträge erhalten, gesetzlich untersagt, staatliche Gelder zu verwenden, um Lobbyisten zum Zwecke des fortdauernden Erhalts dieser Subventionen bzw. Kontrakte zu besolden. Zum anderen hat der Kongreß mit der Verabschiedung des Ethics Reform Act für Politiker einen verschärften Katalog von Verhaltensregeln verabschiedet. Sie dürfen beispielsweise nach Ablauf ihrer Amtszeit ein Jahr lang keiner Lobbyistentätigkeit im Bereich der Legislative nachgehen; ein beliebter Mißbrauch des Amtseinflusses, die allzu rasche Verquickung von Politik und Partikularinteresse, ist damit zumindest eingeschränkt worden. Legitimationsprobleme Daß in den USA aber auch grundsätzliche Kontroversen um die Vereinbarkeit des Verbandswesens mit demokratischen Prinzipien ausgefochten werden, sei wenigstens angemerkt. Ob sich alle in einer Gesellschaft existierenden Interessen angemessen organisieren und repräsentieren lassen, ob also alle sozialen Gruppen von der staatlichen Umverteilung des Bruttosozialprodukts profitieren, ist ebenso umstritten wie die Frage, inwieweit die amerikanische Herrschaftsordnung als eine pluralistische verstanden werden kann. Eine "kritische" sozialwissenschaftliche Richtung im Gefolge des Soziologen C. Wright Mills leugnet generell die Stichhaltigkeit dieser Annahme: "In der amerikanischen Gesellschaft sind Wirtschaft, Politik und Militär die eigentlichen Machtzentren. Andere Institutionen liegen heute mehr oder weniger abseits der modernen Entwicklung und müssen sich von Fall zu Fall diesen drei großen Machtzentren unterordnen. Man kann die führenden Personenkreise auch als Angehörige einer obersten Gesellschaftsschicht auffassen, deren Mitglieder sich untereinander kennen, sich häufig gesellschaftlich und geschäftlich begegnen und deshalb bei ihren Entscheidungen aufeinander Rücksicht nehmen. Dieser Auffassung entsprechend fühlt sich die Elite als der innere Kern der oberen Gesellschaftsklasse und wird auch von anderen so angesehen. Die Elite bildet ein mehr oder weniger festgefügtes soziales und psychologisches Ganzes; ihre Mitglieder sind selbstbewußte Angehörige einer sozialen Klasse, in die man entweder aufgenommen wird oder nicht." (C. Wright Mills) Ist nicht die Mills'sche "Machtelite" gleichbedeutend mit dem "militärisch-industriellen Komplex" fragen andere, also mit jener Interessenverflechtung von Militärs, Rüstungsindustrie, Politikern, Bürokraten und Forschungseinrichtungen, die in Washington stets präsent ist und wesentlichen Einfluß auf zentrale Entscheidungen des politischen Systems ausübt? Empirische Untersuchungen haben Einfluß und Gewicht dieses "Komplexes" durchaus bestätigt, gleichzeitig aber keine ausreichenden Beweise für die behauptete Einseitigkeit der Machtprozesse oder gar für die Einheitlichkeit der Interessen des "Komplexes" gefunden (die seine Durchschlagskraft massiv erhöhen würde). Viele Entscheidungen des politischen Systems in den vergangenen zwei Jahrzehnten - etwa im Bereich der Umwelt- und Verbraucherschutzgesetzgebung oder im Kartell- und Wettbewerbsrecht - verweisen auf die Existenz eines mehr oder minder weit reichenden autonomen Handlungsspielraumes für die staatlichen Institutionen. Aufkommen wie Wirksamkeit von public interest groups haben deutlich gemacht, daß heute in den USA auch allgemeine Interessen der Gesellschaft organisierbar sind und politische Erfolge erzielen können, wenn ihre Repräsentanten den Politikern glaubhaft die Gefahr des Verlustes von Wählerstimmen vor Augen führen können. Einiges spricht also für die These, daß die USA noch immer das Land des organisierten Pluralismus seien. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung Ein kurzer Blick muß abschließend noch auf das Phänomen der "Öffentlichkeit" fallen, gilt es doch als wesensnotwendiges Element demokratischer Herrschaftsordnung und wächst sein Gewicht unter den technischen Gegebenheiten der Gegenwart. Schon die Gründerväter stifteten den engen Zusammenhang von Volkssouveränität, Demokratie und öffentlicher Meinung. Der freie Mensch sei von Natur aus zur Informationsaufnahme und -verarbeitung, damit aber auch zum Gesetzgeber und Herrscher, befähigt. Öffentliche Meinung entstehe als rational-spontane Kraft, wenn bloß die Freiheitlichkeit der Lebensumstände gewährleistet sei, genauer: die Freiheit der Meinung, Rede und Presse. Auch wenn im geschichtlichen Entwicklungsprozeß der USA mancherlei Zweifel an solchem Optimismus laut wurden und die Existenzbedingungen einer modernen Massengesellschaft solche Zweifel nähren, bekennen sich die Amerikaner entschlossener als vergleichbare Gesellschaften zum Gebot der Öffentlichkeit (publicity). Sie breiten mit Hilfe einer hochentwickelten Technik der Berichterstattung mehr Gegenstände der politischen Willensbildung schon im Entstehungsstadium vor der Öffentlichkeit aus, als dies vergleichbare europäische Gesellschaften tun. Gerade auch die Regierenden erweisen der vielgestaltigen öffentlichen Meinung des Landes gebührenden Respekt. Alle Ministerien und Ämter unterhalten einen aufwendigen Apparat für Öffentlichkeitsarbeit, selbst der geheimnisumwitterte CIA gewährt mehr Einblicke in seine Funktionsabläufe als vergleichbare Geheimdienstorganisationen. Freilich sind in den vergangenen Jahrzehnten auch in Amerika Spannungen aufgebrochen zwischen dem Anspruch des Volkssouveräns auf umfassende Unterrichtung und den wachsenden Geheimhaltungsbedürfnissen der Exekutive, die immer ausgedehntere politisch-diplomatische und militärische Probleme öffentlicher Kenntnis vorenthalten will und diesen Umstand durch großzügige Ausbreitung weniger wichtigen Tatsachenmaterials und ungewöhnlicher Transparenz im Nebensächlichen zu verschleiern sucht. So fällt heute den Massenmedien, vorab der Presse, verstärkt die Aufgabe zu, als Kontrolleurin der staatlichen Gewalten zu wirken und intensiv die Schaffung einer angemessen informierten Öffentlichkeit a Voraussetzung für demokratische Herrschaft zu betreiben. Presse Der Engländer Edmund Burke hat schon vor 200 Jahren die Presse als "vierte Gewalt" im Staate, als Hüterin und Garantin bürgerlicher Freiheit definiert. Im Jahr 1973 hat der Sturz Richard Nixons einmal mehr die Macht einer Presse bezeugt, die selbst unter Druck ihr öffentliches Wächteramt ernst nimmt. Die Enthüllungen der Washington Post im Watergate-Skandal trugen zum Scheitern Nixonscher Bemühungen bei, eine übermächtige Präsidentschaft unter Umgehung wesentlicher Verfassungsgebote zu begründen. Aufs ganze gesehen war freilich das Verhältnis der "vierten Gewalt" zu den drei anderen früher eher harmonisch, herrschte in der überwiegenden Zahl der Zeitungen und Zeitschriften eine pragmatische, ja sogar unpolitische Haltung vor. Die US-Presse wollte von Fakten und Geschehnissen berichten, eher Informationsvermittlung als Meinungsbildung betreiben, was enge Zusammenarbeit mit den politischen Institutionen gebot, die über Informationen verfügten. Dabei lauerte immer die Gefahr, daß man die Unabhängigkeit der Urteilskraft einbüßte oder allzu dürftige Perspektiven und Maßstäbe für Bewertungen der Fakten bereitstellte. Erst seit den sechziger Jahren hat sich das Bild gewandelt. Die wachsende Pressekonzentration verringerte journalistische Konkurrenzverhältnisse und damit die Notwendigkeit taktisch bedingter Rücksichtnahme auf die staatlichen Informanten. Der Journalistenstand gewann seit der Präsidentschaft des Intellektuellen John F. Kennedy an Selbstbewußtsein und Verantwortungsgefühl. Das Aufbrechen von Protestbewegungen und Subkulturen in der Öffentlichkeit schwappte auch in die Medien über, ließ zumindest Teile der Presse zum Forum oppositionellen Denkens werden. Die daraus resultierenden Attacken der Präsidenten Johnson und Nixon auf die "politisierte" Presse wirkten in dieselbe Richtung. Die kämpferische Haltung mancher Zeitungen versteifte sich. Sie rebellierten gegen staatliche Sicherheitsvorkehrungen, veröffentlichten Geheimdokumente und gingen auf wachsende Distanz zu allen Herrschaftsträgern, kurzum, sie suchten nun die Rolle einer demokratischen "vierten Gewalt" auszufüllen. Freilich vollzieht sich eine beständige politische Meinungsbildung im Sinne der Erziehung zu rationaler Urteilsfähigkeit bloß durch eine Handvoll der ca. 20000 verschiedenen Blätter, von denen knapp 1800 täglich erscheinen. Dabei sind selbst international renommierte Zeitungen im allgemeinen auf einen regionalen Leserkreis beschränkt: Die New York Times etwa oder die Washington Post auf die Ostküste, die Los Angeles Times auf die Westküste, was mit der Größe des Landes und dem relativen Vorrang des lokalen oder regionalen vor dem nationalen Interesse des Publikums zu erklären ist. Als etabliertes Organ mit nationaler Verbreitung findet sich allein die führende Wirtschaftszeitung der USA, das Wall Street Journal. Seit Beginn der achtziger Jahre versucht der Gannett-Konzern, unter Einsatz modernster Kommunikationstechniken das Blatt USA Today im ganzen Lande zu vertreiben. Erwähnt werden müssen noch einige Wochenzeitschriften mit nationaler Verbreitung, Nachrichtenmagazine wie Time, Newsweek oder U.S. News & World Report. In diesen Magazinen verbindet sich gründliche Informationsvermittlung mit meinungsbildender Wertung, formiert sich also eine politisch ernstzunehmende Öffentlichkeit. Sorgen bereitet derzeit eine besondere Form der Pressekonzentration, die nicht im Dahinsiechen kleinerer und mittlerer Zeitungsverlage wurzelt, sondern gerade in deren außergewöhnlicher Gewinnträchtigkeit. Sie werden deshalb wie eine Ware behandelt und von "Zeitungsketten"-Unternehmen aufgekauft. Heute sind zwei Drittel der Tageszeitungen einer solchen Kette (etwa der Gannett-Company) angeschlossen, werden fast 40 Prozent der täglichen Auflage von 61 Millionen Tageszeitungen durch die zwölf größten Presseimperien kontrolliert. In vielen Städten gehören die zwei oder drei noch existierenden Lokalzeitungen zum selben Konzern und führen bloße Scheingefechte gegeneinander, ist also Meinungsvielfalt mindestens im Pressesektor nicht mehr allerorten gewährleistet. Profitstreben sorgt für Konzentrationsprozesse, die politisch jederzeit aktualisierbare Machtbasen schaffen und ebenso wie die unaufhaltsame Ausdehnung der audiovisuellen Massenmedien die Zukunft der Presse bedrohen. Politik im Zeichen des Fernsehens 1. […] Das Fernsehen beschränkte sich bei der Darstellung der Parteien immer mehr darauf, entweder einzelne Führungsfiguren in Erscheinung treten zu lassen oder die begeisterten Teilnehmer von Parteikundgebungen und die anonymen Heerscharen von Konventsteilnehmern zu zeigen. Diese Tendenz verstärkte sich, weil die Fernsehproduzenten Grund zu der Annahme hatten, die Zuschauer wollten eine politische Berichterstattung, die so transparent war wie die Reportage von einem Pferderennen; die Bevölkerung schien die in den Präsidentschaftsvorwahlen gegebene breite und öffentlich zutage tretende Mitbestimmungsmöglichkeit zu begrüßen. […] Durch die nach 1968 erfolgten Parteireformen waren es überdies nicht mehr ein paar Dutzend Parteifunktionäre, die die Präsidentschaftskandidaten bestimmten, sondern vielmehr jene Tausende von Aktivisten, die in den Parteiversammlungen ihre Stimme abgaben sowie die Millionen von Wählern, die an den Vorwahlen teilnahmen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bezog die neue ”Auswählerschaft” ihre Informationen über die Bewerber aus den Massenmedien, insbesondere aus dem Fernsehen. Der ”Rennbahn-Journalismus” führte dazu, daß sich die Berichterstatter auf Bewerber konzentrierten, die Aussicht auf Erfolg hatten, und daß das Fernsehen nach jeder Vorwahl die Sieger und Verlierer herausstellte (nämlich die Kandidaten, die besser oder schlechter als erwartet abgeschnitten hatten). Indem sie entschieden, über welche Bewerber berichtet wurde und über welche nicht, und indem sie den von ihnen gekürten Siegern Auftrieb gaben, übernahmen die Fernsehredakteure praktisch die Kandidatenauswahl, die früher die Parteifunktionäre vorgenommen hatten. Die Fernsehanstalten spielten auf diese Weise eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Präsidentschaftskandidaten (und damit auch der Präsidenten). 2. Dadurch, daß das Fernsehen Einzelpersonen und nicht Parteien in den Vordergrund stellte, nahm das ”ticket splitting”, also die Stimmverteilung auf verschiedene Wahlvorschläge, zu. Im Politikunterricht hatten die Lehrer zwar seit Generationen betont, man solle für ein bestimmtes Amt den geeignetsten Bewerber aussuchen, ohne auf dessen Parteizugehörigkeit zu achten, doch erst seit dem Beginn des Fernsehzeitalters hat eine Verteilung der Stimmen auf verschiedene Wahlvorschläge in größerem Umfang stattgefunden. […] 3. Durch das Fernsehen nahm die Machtfragmentierung im Kongreß zu. Wie Norman J. Ornstein ausgeführt hat, war der Kongreß in den fünfziger Jahren ein System für sich, bei dem die Mitglieder beider Kammern ihre Belohnungen und Bestrafungen von ihren Wählern und von ihren Parteiführern erhielten. […] Der Erfolg eines Kongreßabgeordneten beruhte darauf, daß er wichtigen Komitees angehörte und bedeutende Posten erhielt; ehrgeizige junge Abgeordnete konnten dieses Ziel nur erreichen, wenn sie ihre Verläßlichkeit und Einsicht dadurch unter Beweis stellten, daß sie den Wünschen der Parteiführer im Kongreß nachkamen. Im Fernsehzeitalter änderte sich vieles. Die Fernsehredakteure stellten fest, daß Rebellen, die sich gegen das Kongreß-Establishment auflehnten, viel telegener waren als Parteiführer, die hinter verschlossenen Türen Absprachen trafen. Deshalb erhielten die Abweichler viel Aufmerksamkeit. Wie Ornstein ausführte, schlugen viele Abgeordnete im Fernsehzeitalter andere Wege ein, um auf der Karriereleiter voranzukommen: Als die Medienberichterstattung ausgedehnt wurde, erhielten immer mehr Kongreßabgeordnete die Gelegenheit zu einem Fernsehauftritt, und dabei handelte es sich meist um Hinterbänkler. […] Dieser Trend zur persönlichen Publicity bot dem Abgeordneten eine Reihe von Vorteilen, […] Er mußte nicht mehr die internen Spielregeln beachten, um Belohnungen zu bekommen und Nachteile zu vermeiden. Er konnte ”an die Öffentlichkeit gehen” und das ganze Land auf sich aufmerksam machen. […] Um ein gestecktes Ziel zu erreichen, mußten mehr Abgeordnete als je zuvor einzeln bearbeitet werden, und es war schwieriger denn je, im Kongreß Koalitionen zu bilden und aufrechtzuerhalten. 4. Das Fernsehen förderte eine politische Kultur, die den Ausgleichs- und Kompromißbemühungen der Spitzenpolitiker mit immer stärkerer Ablehnung begegnet. Die Fernsehberichterstatter hielten es für ihre oberste Pflicht, dem Recht des Publikums auf Information Genüge zu tun. Folglich betrachteten sie jeden Versuch eines Politikers, öffentliche Angelegenheiten hinter verschlossenen Türen zu behandeln, als einen Verstoß gegen dieses Recht und argwöhnten zudem, daß es dabei um etwas Verwerfliches oder Strafbares gehe. Im übrigen galten bei den Fernsehanstalten diejenigen Politiker als vorbildlich, die sich von der Meinung ihrer Kollegen und ihrer Parteiführer nicht beeindrucken lassen und unverrückbar ihren eigenen Überzeugungen treu blieben. Austin Ranney, Broadcasting, Narrowcasting, and Politics, in: Anthony King (Hg.), The New American Political System (übersetzt von Rüdiger Hipp), Lanham, Maryland, 19902, S. 187 ff. Funk und Fernsehen Die Statistik weist aus, daß die Amerikaner ein Volk von Rundfunkhörern, mehr noch ein Fernsehvolk sind. Die Zahl der Fernseh- und Rundfunkgeräte in US-Haushalten schlägt alle Rekorde. Fast die Hälfte aller Radio- und Fernsehstationen der Welt senden in den USA. Von den über 10000 Radiostationen arbeiten beinahe 90 Prozent auf kommerzieller Grundlage; ein Zehntel fungiert als nichtkommerzielles public radio oder community radio. Während die public radios von Universitäten, Kommunen oder anderen um kulturell ausgerichtete Programme bemühte Organisationen getragen werden, stehen hinter den Community-Radio-Sendern meist örtliche Initiativen. Beide leben von Spenden, Mitgliedsbeiträgen und staatlichen Zuschüssen. Im Bereich des Fernsehens stehen etwa 1400 lokale Stationen, überwiegend kommerziell betrieben, neben etwa 340 Public-Television-Stationen, die in dem Network Public Broadcasting System (PBS) zusammengeschlossen sind. Die zahlenmäßige Vielfalt im Bereich der elektronischen Medien erklärt sich in erster Linie aus der eigentümlichen Struktur des amerikanischen Funk- und Fernsehwesens, aus seiner privatwirtschaftlich-kommerziellen Verfaßtheit. Schon die Entwicklung des Rundfunks in den dreißiger Jahren stand ganz im Zeichen traditioneller Vorstellungen von Marktwirtschaft und Privateigentum: Frei sollte er sein und unabhängig von staatlichen Instanzen, gratis senden sollte er für die Hörer und sich aus Werbeeinnahmen finanzieren. Was dem Rundfunk recht war, ist dem Fernsehen seit den vierziger Jahren billig. Staatliche Eingriffe wurden nur insoweit hingenommen, als es um Lizenzerteilung oder Frequenzverteilung ging, was angesichts technischer Sachzwänge notwendig war. Wenn sich politische Einwirkungen auf die Programmgestaltung abzeichneten, organisierte sich sofort heftiger Widerstand. Die Einnahmen der Rundfunk- und Fernsehgesellschaften speisen sich überwiegend aus dem Vermieten von Sendezeit an Anzeigenkunden, aus Werbe-Einblendungen in das laufende Programm. Gewaltige Summen werden dabei umgesetzt, das Betreiben einer TV-Station gilt als lukrative Angelegenheit. Das Programm freilich leidet unter dem Gesetz, daß die Werbeminute um so teurer ausfällt, je höher die Einschaltquote ist. Die Suche nach dem geschmacklichen Generalnenner der größten Zahl ist selten qualitätsfördernd. Gesellschaftlich Kontroverses, politisch Brisantes muß im Zweifel banaler Unterhaltung, muß soap operas, Krimis oder Serienwestern weichen. Das von Gemeinden, politischen und kulturellen Verbänden, von Universitäten und ähnlichen Einrichtungen getragene Public Broadcasting System, ein öffentliches Bildungsfernsehen sozusagen, will der programmatischen Nivellierung entgegenwirken. Obzwar durch Bundeszuschüsse unterstützt, ist es derzeit schon wegen seiner begrenzten finanziellen Möglichkeiten keine ernsthafte Konkurrenz für die kommerziellen Rivalen. Der Anteil der öffentlichen Sender am Fernsehkonsum der Nation beträgt gerade einmal drei Prozent. Überdies lassen manche staatlichen Einflußmöglichkeiten, etwa im personellen Bereich, das öffentliche Fernsehen in den Augen vieler Amerikaner verdächtig erscheinen. Die Vielzahl der regionalen und lokalen Rundfunk- und Fernsehgesellschaften in den USA darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Großteil der Programmgestaltung in den Händen nationaler networks und Medienriesen liegt, die auf vertraglicher Basis Sendungen an kleinere Unternehmen verkaufen: NBC (National Broadcasting Company), CBS (Columbia Broadcasting System) und ABC (American Broadcasting Company) sind in allen Regionen der USA präsent und wetteifern miteinander um möglichst viele Klienten. Sie sind ihrerseits wieder Bestandteile größerer Konzerne und als solche im letzten Jahrzehnt zwischen verschiedenen Eignern hin- und hergeschoben worden. Neue Möglichkeiten eröffneteten sich durch das Kabelfernsehen. In den verkabelten Gebieten, vor allem vielen Großstädten, können Dutzende Programme empfangen werden, darunter nicht zuletzt Kultur- und Minderheitenprogramme. Welche Funktionen üben Funk und Fernsehen in der amerikanischen Gesellschaft aus? Eine moderne Industriegesellschaft von ca. 250 Millionen Menschen, verstreut über einen riesigen Kontinent, bedarf intensiver Kommunikation, um ihre Anstrengungen koordinieren, ihre Leistungsfähigkeit sichern zu können. Radio und Fernsehen erfüllen die Aufgabe der Kommunikation und wirken durch ihre Programme als Integrationsfaktoren einer ansonsten vielfach auseinanderstrebenden Nation. Von einer Küste zur anderen informieren sie mit oft genug verblüffender Aktualität über wichtige innenpolitische Vorgänge oder ausländische Ereignisse. Sie erleichtern damit die Verständigung der Amerikaner untereinander und tragen zum Aufbau der demokratienotwendigen öffentlichen Meinung bei. Glaubwürdigkeitskrise der Journalisten? Amerikas Journalisten müssen sich derzeit heftige Schelte gefallen lassen. ”Geht der journalistische Zynismus zu weit?” fragte jüngst die New York Times, und Politikwissenschaftler fragen, ob die Journalisten schuld sind, daß die Amerikaner kein Vertrauen mehr in Regierung und Legislative haben? […] Die Rolle der Journaille als Wächter von Sitte und Moral ist ins Zwielicht geraten. In seinem Buch ”Breaking the news - Wie die Medien Amerikas Demokratie unterwandern” analysiert der Journalist und Medienkritiker James Fallows ”warum die Amerikaner die Medien hassen”. Seine Analyse: Politreporter und TV-Anchormen betrachten Politik nur unter dem Blickwinkel von Machtgewinn und Machterhalt und vernachlässigen die Inhalte. Befragen Journalisten Politiker, gehe es nur um das ”wie”, klagt Fallows, nach dem Muster: Welche Taktiken bevorzugen Politiker im Wahlkampf? Wie stehen sie im Vergleich untereinander da? Sehe man sich die Fragen von Bürgern an, die Politiker in Hearings zur Rede stellen, gehe es fast ausschließlich um das ”was”. In der Art: Was gedenken Sie gegen das Haushaltsloch zu tun? Welche Auswirkungen haben die Kürzungen der Sozialleistungen? Die Journalisten, moniert Fallows, wollten Politikern nur nachweisen, daß sie machtgeil und opportunistisch seien. ”Das subtile, aber sichere Ergebnis davon ist ein täglicher Strom von Nachrichten, die uns glauben machen, daß der eigentliche Sinn des öffentlichen Lebens nicht darin liegt, gemeinsam die Probleme in unserer Gesellschaft anzugehen.” […] Doch das ist nicht alles. Habe früher zum Beispiel jeder Reporter von John F. Kennedys ”unstillbaren Appetit auf Frauen” gewußt und trotzdem nicht darüber geschrieben, so sei heute ”nichts zu peinlich, um darüber zu berichten, wenn es Aufschluß über den Charakter eines Politikers geben könnte”. Fallows beschuldigt die Reporter im Weißen Haus der Ignoranz und Eitelkeit, wenn er schildert, wie sie untätig herumsitzen, weil man ihnen […] keine Sendezeit gibt. ”Warum geht ihr nicht raus und macht eure Arbeit”, wollte er ihnen zurufen, ”zum Beispiel über Dinge, für die ihr sonst nie Zeit habt.” Viele stimmen den Bedenken Fallows zu. […] So hat eine Umfrage […] im vergangenen Jahr ergeben, daß die meisten Amerikaner finden, die Presse berichte zu zynisch und abgehoben über Politik. Doch die Zyniker radikal zur Ordnung zu rufen, käme im Land der fast grenzenlosen Meinungs- und Redefreiheit einer Zensur gleich. So bleibt nur die vorsichtige Mahnung nach ”mehr Balance”. Gerti Schön, Glaubwürdigkeitskrise der Journalisten?, in: Frankfurter Rundschau vom 9. März 1996. Bedeutung der Massenmedien Unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern ist die Bedeutung der Massenmedien im Rahmen der politischen Meinungsbildung immer noch umstritten. Sicher lassen sich Beispiele dafür finden, daß das Fernsehen die öffentliche Meinung des Landes gelegentlich beeinflußt, ja verändert hat. Der knappe Sieg des Demokraten Kennedy über den republikanischen Favoriten Nixon im Jahre 1960 ist von Wahlanalytikern der werbewirksameren Selbstdarstellung Kennedys zugeschrieben worden, ebenso Carters Erfolg über Ford im Jahre 1976, der nicht zuletzt in der überaus sorgfältigen Vorbereitung des Südstaatlers auf die TV-Duelle mit dem Amtsinhaber wurzelte. Und daß Ronald Reagan das Medium zur Beförderung seiner Wahlchancen - gegenüber Jimmy Carter (1980) und Walter F. Mondale (1984) - trefflich zu nutzen verstand, verwundert bei einem Ex-Schauspieler nicht. Bill Clinton und Bob Dole sind im Präsidentschaftswahljahr 1996 von der wahlstrategischen Bedeutung ihres zweifachen Fernsehduells überzeugt gewesen: wie anders wäre es zu erkren, daß sich die Rivalen um das Weiße Haus vor ihrem rednerischen Schlagabtausch tagelang aus der Öffentlichkeit verabschiedeten und mit "Sparringspartnern" an abgelegenen Orten der USA ihre Auftritte einstudierten? Daß dabei der Herausforderer Dole den Wettkampf nicht zur Verkürzung des Clintonschen Vorsprungs in den nationalen Meinungsumfragen nutzen konnte, war weniger auf argumentative Defizite als dem mediengerechteren Auftreten des vergleichsweise jugendlichen Amtsinhabers zuzuschreiben. Unzweifelhaft hat das Fernsehen den Wahlkampfstil der politischen Parteien in den letzten zwanzig Jahren verändert, das Wesen der Präsidentschaft beeinflußt und dem Weißen Haus ungeahnte Möglichkeiten oder Versuchungen charismatischer Herrschaft eröffnet. Wer sich heute um ein Amt bewirbt, kommt ohne das Werbemedium Fernsehen nicht mehr aus. Er verläßt sich auf Ratschläge professioneller Werbemanager und operiert mit dem Einsatz bezahlter Werbespots. In ihnen verweist er in aller Kürze (meist 30 Sekunden) auf seine politischen Ziele in einer Art, in der ansonsten für alltägliche Konsumprodukte geworben wird. In den letzten Jahren sind auch solche Werbespots in Mode gekommen, die den politischen Rivalen verunglimpfen, was zur Verwilderung der Wahlkampfsitten beigetragen hat. Nicht nur die einzelnen Kandidaten betreiben solche Werbekampagnen, sondern auch die sie unterstützenden PACs. Neben der unvermeidlich erscheinenden Entpolitisierung der Wahlkampagnen, die aus den geschilderten Werbemethoden entspringt, bieten auch die damit verbundenen hohen Kosten Anlaß zur Sorge, können sie doch das demokratische Gebot der Chancengleichheit gefährden. Ob aber der Einfluß des Fernsehens so weit reicht, um im Normalfall den Ausgang von Wahlen entscheiden zu können, wird neuerdings wieder heftig bezweifelt. Ob Thomas Jefferson nicht doch recht hatte, als er der Urteilskraft des Wählers, der Rationalität und Unabhängigkeit der amerikanischen Gesellschaft Respekt zollte? Zu unterschiedlich wirken die aktuellen Befunde der Sozialwissenschaftler, als daß sie einseitigen Optimismus oder Pessimismus gestatteten. Sie spiegeln damit bloß die Vielschichtigkeit des Phänomens Öffentlichkeit oder öffentliche Meinung im Zeitalter moderner Massenmedien wider. Wer herrscht: Kongreß oder Präsident? […] Der zugespitzte Gegensatz ”Herrschaft des Kongresses oder des Präsidenten” trifft weder die Regelungen der amerikanischen Verfassung, erst recht nicht die Verfassungswirklichkeit. Denn wir haben es in den Vereinigten Staaten mit einem präsidentiellen Regierungssystem zu tun, nicht mit einem parlamentarischen wie bei uns in der Bundesrepublik Deutschland oder in Großbritannien. Während im parlamentarischen Regierungssystem der Chef der Exekutive aus dem Parlament mit der Mehrheit der Stimmen gewählt wird (und auch abgewählt werden kann) und so Parlamentsmehrheit und Exekutive, verbunden durch die Klammer der Partei- und Fraktionsdisziplin, eine politische Aktionseinheit, nämlich die Regierungsmehrheit bilden, ist die Situation in den USA eine völlig andere. Hier werden Präsident und Parlament gleichermaßen vom Volk gewählt, können sich beide auf den Souverän, das Volk, berufen - und der Chef der Exekutive geht eben nicht aus der Mehrheit der Legislative hervor, er kann von dieser auch nicht abgewählt werden. Der Präsident kann sich mithin nicht auf eine Mehrheit im Kongreß stützen, er muß Mehrheiten vielmehr jeweils ad hoc suchen, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als Koalitionen zu bilden. Und Parteien und Fraktionen sind - im Vergleich zur Bundesrepublik und zu Großbritannien - recht bedeutungslos, sie entfalten keine große politische Bindungskraft. […] Die Frage nach Herrschaft des Kongresses oder nach der des Präsidenten erweist sich jedoch für viele Politikbereiche als Scheinproblem. Denn in der Realität laufen Entscheidungsprozesse nicht nur darauf hinaus, daß Legislative und Exekutive sich verständigen und einen Kompromiß schließen müssen. Dies ist eine viel zu einfache und zugleich abstrakte Vorstellung, als wären nämlich nur zwei Verfassungsorgane beteiligt. Vielmehr ist angesichts der - im Vergleich zu parlamentarischen Regierungssystemen - extrem fragmentierten Struktur amerikanischer Politik eine Verständigung zwischen einer viel größeren Zahl von Akteuren zu suchen, die alle über ein gewisses Maß an politischer Handlungs- und Entscheidungsautonomie verfügen und die nicht einfach den beiden Gewalten Exekutive oder Legislative zugeordnet werden können. Amerikanische Politik ist immer Koalitionspolitik, sie läuft auf Koalitionsbildung zwischen einer Vielzahl von Beteiligten hinaus, ohne daß Instrumente wie Fraktionszwang, Partei- und Kabinettsdisziplin, Vertrauensfrage oder Drohung mit Parlamentsauflösung zur Verfügung ständen. Der Aggregatzustand amerikanischer Politik könnte als instabil und flüchtig charakterisiert werden. Permanent findet zwischen einer großen Zahl von Akteuren gegenseitiges Überzeugen, Werben, Lobbying, Reden, Verhandeln, Kuhhandeln, Kompromisse schließen […] statt. […] Auf seiten des Kongresses gehören zu den Akteuren unter anderem 100 Senatoren und 435 Abgeordnete, jeweils ausgestattet mit einem - für deutsche parlamentarische Verhältnisse - großen Stab professioneller Mitarbeiter, etwa 400 Ausschüsse und Unterausschüsse in beiden Häusern, denen jeweils ein Mitglied vorsitzt und die ebenfalls von Profis unterstützt werden; etwa 100 mehr oder minder fest institutionalisierte ”Caucuses”, Interessenzusammenschlüsse von Abgeordneten (wie der ”Black Caucus” oder ”Women’s Caucus”); schließlich die ”party leadership”, die vom ”Democratic Caucus” bzw. der ”Republican Conference” gewählten Parteirepräsentanten. Innerhalb der Exekutive verläuft ein tiefer Graben zwischen einerseits dem Präsidentenamt und den dem Präsidenten zur Hand gehenden Ämtern im Weißen Haus und in der Exekutive Office (”presidential government”) und andererseits den auf Dauer errichteten Hunderten von Behörden und Ämtern, den Departments, Agencies und unabhängigen Regulierungskommissionen (”permanent government”). Auf die Behörden im permanent government hat der Präsident nur schwer einen Zugriff, sie sind relativ autonom und treten - wie der Präsident selbst - im Koalitionsbildungsprozeß als Akteure und potentielle Koalitionspartner auf. So verwirrend-unübersichtlich diese Situation aus der deutschen Perspektive eines parlamentarischen Regierungssystems auch erscheinen mag, so stellt sich gleichsam hinter den Kulissen und von vielen kaum bemerkt doch ein Moment der Stabilität und Institutionalisierung ein. In den verschiedenen Politikfeldern kooperieren nämlich die für diesen Bereich zuständigen Ausschüsse und Unterausschüsse des Kongresses, die Behörden der Exekutive und die entsprechenden Interessengruppen. Eine Art ”eisernes Dreieck” entsteht bzw. ein Netzwerk von spezialisierten Politikexperten. […] Nicht der Gegensatz von Präsident und Kongreß ist hier also entscheidend. Vielmehr können ad hoc oder auf mittlere Dauer entstandene Koalitionen sich gegen den Präsidenten richten - selbst wenn ihnen, was die Regel ist, Behörden des ”permanent government” angehören. Zugespitzt formuliert: In einem solchen Fall steht ein Teilbereich der Exekutive in Opposition zum Präsidenten. Dies alles ist aber nur Ausdruck der extremen Fragmentierung im politischen System der USA, eines Systems von ”checks and balances”. Peter Lösche, Wer herrscht: Kongreß oder Präsident?, in: Das Parlament vom 10. September 1993. Schlußbemerkung Die politisch-soziale Ordnung der Vereinigten Staaten von Amerika ist in den letzten Jahrzehnten von mancherlei Krisen erschüttert worden. Das Vietnam-Debakel der sechziger und siebziger Jahre ist von vielen Amerikanern, die bis zu diesem Zeitpunkt von der Einzigartigkeit ihrer idealistischen Zielvorstellungen verpflichteten Nation überzeugt waren, als "Sündenfall" empfunden worden. Die kaum kaschierte Niederlage der USA im Vietnam-Krieg, die Demütigung durch die iranischen Mullahs in der Geiselnehmeraffäre von 1980, Ärger mit eigensinnigen Diktatoren in Zentral- und Lateinamerika, Schwierigkeiten im Umgang mit den eigenen Verbündeten oder der hastige Rückzug der amerikanischen Soldaten aus Somalia im März 1994 und manches andere mehr haben die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten auch einer atomaren Supermacht aufgewiesen. Und jene Revolutionierung der Weltordnung durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges konfrontiert die einzig verbliebene Weltmacht in einer zusehends multiporen, unübersichtlichen Welt mit einer Fülle von Problemen, die den Triumph des Sieges im Kalten Krieg rasch haben vergessen lassen. Derzeit ringt die amerikanische Außenpolitik um neue Orientierungen angesichts der wachsenden "Weltunordnung", während in der Gesellschaft die Sehnsucht nach der "guten alten Zeit des Isolationismus" zunimmt. Auch in der Innenpolitik gab es in den letzten Jahrzehnten Probleme. Die Präsidentschaften Lyndon B. Johnsons und Richard Nixons setzten vorübergehend überkommene Gewaltenteilungs- und Herrschaftsbeschränkungsmechanismen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative außer Kraft und ließen die amerikanische Gesellschaft vor der "Hybris der Macht" erschauern, die seit Gründung der Republik als "Kapitalsünde" schlechthin galt. Im Watergate-Skandal zerbrachen nicht nur Präsident Nixons Herrschaftsambitionen. Dieser Skandal führte zusammen mit nachfolgenden "Affären" des Weißen Hauses zu einem bis heute anhaltenden Ansehensverlust der politischen Institutionen des Landes. Demoskopische Erhebungen belegen eindeutig den Rückgang des Vertrauens der Amerikaner in Leistungsfähigkeit und Integrität vor allem der Exekutive aber auch der Legislative bzw. der zuständigen Politiker. In der Gesellschaft, in der bis zur Mitte der sechziger Jahre das politische System höchste Reputationswerte erzielte, grassiert seither politische Apathie, artikuliert sich in der werte- und strukturkonservativen Republik bisweilen sogar "prinzipielle" Systemkritik. Nach Jahren steigender Haushaltsdefizite und den Mittelstand bedrohender Steuerlasten ist allmählich auch der Sozialstaatskonsens ins Wanken geraten, der sich seit Roosevelts New Deal der dreißiger Jahre herauskristallisiert und verfestigt hatte. Im anhaltenden "Grabenkrieg" der Jahre 1995/96 zwischen der demokratischen Administration Bill Clintons und dem von den Republikanern beherrschten Kongreß um die Budgetsanierung und die Reorganisation des gesamten Sozialversicherungswesens offenbart sich eine ideologische Polarisierung im Hinblick auf zukünftige Gesellschaftsstrukturen, deren Schärfe viele Amerikaner verschreckt. Auch die parlamentarische Willfährigkeit gegenüber dem organisierten Lobbyismus hat das Ansehen des politischen Systems beschädigt und das Anspruchsdenken in der Gesellschaft verstärkt. Die auf Partikularismus und Separatismus zielenden Forderungen verschiedenster Art - von ethnischen Minderheiten wie von religiösen, sozialen, biologischen oder generationenspezifischen Gruppen vorgebracht - beeinflussen das Selbstverständnis der "einen", der "unteilbaren" Nation. Die "Revolution steigender Ansprüche" (Daniel Bell) mit ihrer Losung "Jedem das Gleiche" hat den traditionellen protestantisch-angelsächsischen Wertekodex des Landes mit seer Betonung von individueller Leistung und persönlicher Solidarität ins Wanken gebracht. Die aktuellen Kampagnen zugunsten einer Rückkehr zu den Grundwerten der Nation sind als Reaktion auf Krisenphänomene einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft zu werten, deren Erfolgschancen schwer auszumachen sind. Die ökonomischen und sozialen Problem vieler amerikanischer Großstädte sowie alarmierende Verbrechensstatistiken verschärfen das Krisenbewußtsein vieler Amerikanerinnen und Amerikaner. Freilich haben sich düstere Vorhersagen vom angeblich unaufhaltsamen Niedergang der USA, vom Zerfall der politischen und moralischen Kräfte des Landes wie sie vor allem in den siebziger Jahren - in Deutschland und Europa aber auch in Amerika - beschworen wurden, bis zum heutigen Tage nicht bestätigt. Außenpolitisch sind die USA nach wie vor die einzige Macht, die allein, zuweilen auch im Einvernehmen mit ihren Verbündeten, Kriege beenden und Konflikte entschärfen kann. Erfolge im Nahen Osten oder vor allem auf dem Balkan stehen als Beispiele auch für andere Regionen. Ohne amerikanischen Druck kommt das Geschäft der atomaren und konventionellen Abrüstung ebensowenig voran wie die Bemühungen der führenden Wirtschaftsnation um einen globalen Abbau protektionistischer Wirtschafts- und Handelspraktiken. Die Renaissance unzähliger Bürger-Komitees, Single-issue-Gruppierungen und parteipolitischer Aktivitäten auf lokaler, Distrikts- oder Einzelstaatsebene dokumentiert den wiederbelebten Willen zur Partizipation und zur Übernahme von Eigenverantwortung, relativiert die Bedeutung der äußerst niedrigen Wahlbeteiligung und kündet von der ungebrochenen Lebenskraft der transatlantischen Demokratie. Inmitten eines wuchernden Gruppenegoismus gedeihen Bewegungen, die gegen Umweltschäden, Bildungsmängel, Drogensucht oder Werteverfall kämpfen und sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Gewiß ist die Liste der amerikanischen Probleme lang; wer nicht um die erstaunliche Reaktions- und Anpassungsfähigkeit weiß, welche die Menschen in den USA in schwierigen Situationen ihrer Geschichte immer wieder aufs neue bewiesen haben, mag düstere Zukunftsszenarien entwerfen. Doch ein Doppelpfeiler wankt nicht: der Glaube an die unerschöpfliche Fähigkeit zur Erneuerung und die Treue zu einem demokratischen System, das bislang allen Stürmen widerstanden hat. Tocquevilles vor über 150 Jahren tierte Feststellung hat bisher ihre Gültigkeit behalten: "Das große Privileg der Amerikaner besteht nicht darin, daß sie weiser sind als andere Nationen, sondern daß sie fähig sind, Fehler, die sie begehen mögen, wiedergutzumachen". |
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