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"Das Gericht verbeugt sich vor den Lehren aus der Erfahrung und der Kraft besserer Beweisführung, wobei es anerkennt, dass Versuch und Irrtum, ein Verfahren, das in der Physik so erfolgbringend ist, auch in der Justiz angemessen ist."
— Louis D. Brandeis, Bundesrichter des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten, Burnet gegen Coronado Oil and Gas Company, 1932
Seit der ersten Versammlung des Obersten Bundesgerichts im Jahre 1790 hat es tausende von Urteilen zu so verschiedenen Themen wie den Befugnissen der Regierung, Bürgerrechten bis hin zur Pressefreiheit verkündet. Obwohl viele dieser Urteile wenig bekannt und von geringem Interesse für die Öffentlichkeit sind, heben sich einige aufgrund ihrer Bedeutung für die amerikanische Geschichte ab. Einige der bedeutendsten Fälle sind im Folgenden beschrieben.
MARBURY GEGEN MADISON (1803)
Dieses Urteil wird oft das wichtigste in der Geschichte des Supreme Courts genannt. Im Verfahren Marbury gegen Madison wurde das Prinzip der Normenkontrolle sowie die Befugnis des Gerichts begründet, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder Maßnahmen der Regierung zu urteilen.
Der Fall entstand aus einer politischen Auseinandersetzung nach den Wahlen im Jahre 1800, die Thomas Jefferson von den Demokratischen Republikanern gegen den Amtsinhaber John Adams, einen Föderalisten, gewonnen hatte. Während der letzten Tage der Regierung Adams schuf der mehrheitlich föderalistische Kongress einige Posten in der Justiz, wie etwa 42 Friedensrichter für den District of Columbia. Der Senat bestätigte die Ernennungen, der Präsident unterzeichnete sie, und dem Außenminister kam die Aufgabe zu, die Bestallungsurkunden zu versiegeln und sie zu überreichen. Im Trubel der letzten Amtshandlungen konnte der abtretende Außenminister die Bestallungsurkunden von vier Friedensrichtern nicht überreichen. Einer von ihnen war William Marbury.
Der neue Außenminister unter Präsident Jefferson, James Madison, weigerte sich, die Bestallungsurkunden zu übergeben, da die neue Regierung verärgert darüber war, dass die Föderalisten versucht hatten, ihre eigenen Parteimitglieder auf Posten in der Justiz zu bringen. Marbury erhob Klage vor dem Supreme Court, um Madison anzuweisen, seine Bestallung zu übergeben.
Wenn das Gericht sich entschieden hätte, Marbury Recht zu geben, hätte sich Madison trotzdem weigern können, die Bestallungsurkunde zu übergeben, und das Gericht hätte keine Möglichkeit gehabt, den Beschluss durchzusetzen. Wenn das Gericht sich gegen Marbury entschieden und somit zugelassen hätte, dass ihm das Amt verweigert wird, das ihm rechtlich zustand, hätte es riskiert, gerichtliche Befugnisse an die Jeffersonians abzugeben. Der Präsident des Obersten Bundesgerichts, John Marschall, löste das Dilemma, indem er entschied, dass das Oberste Bundesgericht in diesem Fall keine Handlungsbefugnis hatte. Marshall begründete das Urteil damit, dass Paragraf 13 des Judiciary Act, der die Befugnisse des Gerichts regelt, verfassungswidrig sei, da er die ursprüngliche Zuständigkeit des Gerichts, die in der Verfassung niedergelegt ist, erweiterte. Indem es entschied, kein Urteil in diesem Rechtsstreit abzugeben, sicherte sich das Oberste Bundesgericht seine Rolle als letzter Hüter über das Gesetz.
GIBBONS GEGEN OGDEN (1824)
Die erste Regierung der Vereinigten Staaten unter den Artikeln der Konföderation war teilweise aus dem Grund schwach, dass ihr die Machtbefugnisse fehlten, die Volkswirtschaft der neuen Nation einschließlich des bundesstaatenübergreifenden Handels zu regulieren. Die Verfassung verlieh dem US-Kongress die Befugnis, "Handel zwischen den verschiedenen Staaten... zu regulieren...", diese Befugnis wurde jedoch oft von Bundesstaaten angefochten, die die Kontrolle über wirtschaftliche Belange behalten wollten.
Anfang des 19. Jahrhunderts verabschiedete der Bundesstaat New York ein Gesetz, gemäß dem Dampfbootbetreiber, die zwischen New York und New Jersey pendelten, eine Lizenz von New York benötigten. Aaron Ogden war im Besitz einer solchen Lizenz, Thomas Gibbons nicht. Als Ogden erfuhr, dass sein Konkurrent keine Lizenz von New York besaß, verklagte er ihn.
Gibbons besaß eine Lizenz des Bundes für die Befahrung von Küstengewässern im Rahmen des Coasting Act von 1793, aber die Gerichte des Bundesstaates New York gaben Ogden Recht und bestätigten, dass Gibbons gegen das Gesetz verstoßen hatte, da er nicht über eine Lizenz von New York verfügte. Als Gibbons jedoch vor das Oberste Bundesgericht zog, bewerteten die Richter das Gesetz von New York als verfassungswidrig, da es die Befugnisse des US-Kongresses bei der Regulierung des Handels einschränkte. "Das Wort 'regulieren' bedeutet naturgemäß die vollständige Macht über den zu regulierenden Bereich", begründete das Gericht sein Urteil. Deshalb "schließt es notwendigerweise die Maßnahmen aller anderen Institutionen aus, die dieselbe Handlung in demselben Bereich unternehmen würden."
DRED SCOTT GEGEN SANDFORD (1857)
Dred Scott war ein Sklave, dessen Besitzer John Emerson ihn von Missouri, einem Bundesstaat, in dem die Sklaverei erlaubt war, nach Illinois mitnahm, wo Sklaverei verboten war. Einige Jahre später kehrte Scott zusammen mit Emerson nach Missouri zurück. Scott war der Meinung, dass er nicht mehr als Sklave gelten sollte, weil er in einem freien Staat gelebt hatte.
Emerson starb 1843. Drei Jahre später verklagte Scott die Witwe Emersons, um seine Freiheit zu erlangen. Scott gewann 1850 ein Verfahren vor einem Gericht in Missouri, 1852 hob jedoch das oberste Gericht des Bundesstaats das Urteil des Gerichts der Vorinstanz auf. In der Zwischenzeit heiratete Frau Emerson erneut und Scott wurde zum rechtlichen Eigentum ihres Bruders, John Sanford (der in den Dokumenten des Gerichts fälschlicherweise Sandford genannt wurde). Scott verklagte Sanford vor einem Bundesgericht, um seine Freiheit zu erlangen, aber das Gericht entschied 1854 gegen Scott.
Als der Fall vor dem Obersten Bundesgericht verhandelt wurde, urteilten die Richter, dass Scott nicht als freier Mann gelten könne, nur weil er in einem freien Bundesstaat gelebt hatte. Als Schwarzer sei er kein Bürger und habe daher nicht das Recht, eine Gerichtsverhandlung anzuregen. Das Urteil wurde allgemein kritisiert und trug zur Wahl von Abraham Lincoln bei, der die Sklaverei ablehnte. Er wurde 1860 Präsident und fing bereits 1861 den Bürgerkrieg an. Das Urteil im Verfahren Dred Scott gegen Sandford wurde durch den 13. Verfassungszusatz, mit dem die Sklaverei 1865 abgeschafft wurde, und den 14. Verfassungszusatz, der ehemaligen Sklaven 1868 Bürgerrechte verlieh, aufgehoben.
DIE BUNDESBEHÖRDE FÜR ARBEITSBEZIEHUNGEN (NATIONAL LABOR RELATIONS BOARD - NLRB) GEGEN JONES & LAUGHLIN STEEL CORPORATION (1937)
Während der Fall Gibbons gegen Ogden die Hoheit des Kongresses bei der Regulierung des bundesstaatenübergreifenden Handels begründete, weitete der Fall NLRB gegen Jones & Laughlin die Befugnisse des Kongresses von der Regulierung des Handels selbst auf die Regulierung der Geschäftspraktiken von Branchen, die bundesstaatenübergreifenden Handel betreiben, aus.
Jones & Laughlin, damals eines der größten stahlherstellenden Unternehmen der Vereinigten Staaten, verstieß gegen das Gesetz über Arbeitsbeziehungen aus dem Jahre 1935 (National Labor Relations Act of 1935), indem es 10 Angestellten aufgrund der Teilnahme an Gewerkschaftsaktivitäten kündigte. Das Gesetz verbot eine Reihe von ungerechten Arbeitspraktiken und schützte die Rechte von Arbeitnehmern, Gewerkschaften zu bilden und Tarifverträge auszuhandeln. Das Unternehmen weigerte sich, einer Anordnung des NLRB zu entsprechen und die Arbeitnehmer wieder einzustellen. Ein Bundesberufungsgericht lehnte es ab, die Anordnung der Bundesbehörde durchzusetzen, und das Oberste Bundesgericht überprüfte den Fall.
In diesem Fall ging es darum, ob der Kongress die Befugnis hatte, die "lokalen" Aktivitäten von Unternehmen zu regulieren, die bundesstaatenübergreifend Handel betrieben – das heißt Aktivitäten, die innerhalb eines bestimmten Bundesstaats erfolgen. Jones & Laughlin war der Meinung, dass die Zustände in der Fabrik sich nicht auf den bundesstaatenübergreifenden Handel auswirkten und deshalb nicht vom Kongress reguliert werden dürften. Das Oberste Bundesgericht widersprach dieser Einschätzung und argumentierte, dass die Einstellung dieser [Produktions-] Tätigkeiten aufgrund von Unfrieden im Unternehmen ernste Auswirkungen für den bundesstaatenübergreifenden Handel haben würde... Die Erfahrungen haben deutlich gezeigt, dass die Anerkennung des Rechts von Arbeitnehmern, sich zu organisieren und ihre eigenen Vertreter zur Aushandlung von Tarifverträgen zu wählen, oft eine wichtige Bedingung für den Arbeitsfrieden ist." Indem es die Verfassungsmäßigkeit des National Labor Relations Act bestätigte, bescherte das Oberste Bundesgericht den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern einen Erfolg und legte den Grundstein für weiter reichende Regulierungen der Industrie durch die Bundesregierung.
BROWN GEGEN DIE BILDUNGSBEHÖRDE (BOARD OF EDUCATION) (1954)
Vor diesem historischen Fall betrieben zahlreiche Bundesstaaten und der District of Columbia nach Rassen getrennte Schulsysteme im Rahmen des Urteils des Obersten Gerichtshofs im Verfahren Plessy gegen Ferguson aus dem Jahre 1896, gemäß dem Rassentrennung erlaubt war, wenn die jeweiligen Einrichtungen als gleichwertig angesehen wurden. 1951 focht Oliver Brown aus Topeka (Kansas) diese "getrennt-aber-gleich-Doktrin" an, als er die städtische Schulbehörde im Namen seiner achtjährigen Tochter verklagte. Brown wollte, dass seine Tochter die Schule für Weiße besuchen konnte, die fünf Häuserblocks von ihrem Zuhause entfernt war, und nicht die Schule für Schwarze, die 21 Häuserblocks entfernt war. Da es die Schulen im Wesentlichen als gleichwertig betrachtete, urteilte ein Bundesgericht gegen Brown.
In der Zwischenzeit reichten die Eltern anderer schwarzer Kinder in South Carolina, Virginia und Delaware ähnliche Klagen ein. Das Gericht von Delaware war der Auffassung, die Schulen für Schwarze seien schlechter als die Schulen für Weiße und ordnete den Wechsel der schwarzen Kinder an die Schulen für Weiße an. Vertreter der Schulen legten jedoch beim Obersten Bundesgericht Beschwerde gegen die Entscheidung ein.
Das Gericht verhandelte alle diese Fälle gleichzeitig. Die Schriftsätze, die die schwarzen Prozessparteien einreichten, enthielten Daten und Bewertungen von Psychologen und Sozialwissenschaftlern, die erklärten, warum die Rassentrennung ihrer Meinung nach schädlich für die schwarzen Kinder sei. 1954 kam das Oberste Bundesgericht einstimmig zu dem Schluss, dass "...im Bereich Bildung die 'getrennt-aber-nicht-gleich-Doktrin' keinen Platz hat" und befand, dass die Rassentrennung in öffentlichen Schulen den schwarzen Kindern "den gleichen Schutz der Gesetze" versagt, "die der 14. Verfassungszusatz gewährleistet".
GIDEON GEGEN WAINWRIGHT (1963)
MIRANDA GEGEN ARIZONA (1966)
Zwei Entscheidungen des Obersten Bundesgerichts in den sechziger Jahren stützten die Rechte von Personen, die wegen einer Straftat angeklagt waren.
1961 wurde Clarence Earl Gideon in Florida wegen Einbruchs in ein Billardlokal verhaftet. Als er um einen vom Gericht berufenen Anwalt zu seiner Verteidigung ersuchte, lehnte der Richter sein Gesuch mit der Begründung ab, dass die Gesetzgebung des Bundesstaates die Berufung eines Anwaltes ausschließlich bei Kapitalverbrechen vorsieht, also bei Fällen, in denen es um den Tod einer Person geht oder die die Verhängung der Todesstrafe verlangen. Gideon verteidigte sich selbst und wurde für schuldig befunden. Im Gefängnis verbrachte er viel Zeit in der Bibliothek mit dem Lesen von Rechtsbüchern und verfasste eine Petition an das Oberste Bundesgericht, damit dieses seinen Fall verhandele. Das Oberste Bundesgericht entschied, dass Gideon ein fairer Prozess verweigert worden war und urteilte, dass jeder Bundesstaat dafür Sorge tragen muss, dass Personen, die einer Straftat beschuldigt werden und sich keinen eigenen Anwalt leisten können, einen Pflichtverteidiger gestellt bekommen. Als der Prozess gegen Gideon mithilfe eines Verteidigers wieder aufgenommen wurde, sprach man Gideon frei.
Kaum drei Jahre später entschied das Oberste Bundesgericht, dass Angeklagte lange vor dem ersten Gerichtstermin das Recht auf einen Anwalt haben. Ernesto Miranda wurde von einem einzelstaatlichen Gericht in Arizona wegen Entführung und Vergewaltigung verurteilt. Seine Verurteilung basierte auf einem von Miranda nach einer zweistündigen Befragung gegenüber Polizeibeamten abgelegten Geständnis, ohne dass ihm mitgeteilt worden war, dass er das Recht auf die Anwesenheit eines Anwalts habe. In seinem Urteil schreibt das Oberste Bundesgericht den Polizeibeamten die Äußerung der so genannten Miranda Warnings vor, also die Belehrung eines Verdächtigen bei seiner Verhaftung über seine Rechte – Verdächtige haben das Recht zu schweigen, alles was sie sagen, kann vor Gericht gegen sie verwendet werden, sie haben während der Befragung das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen und sollten sie sich keinen leisten können, wird ihnen einer gestellt.
Der Fall Miranda gegen Arizona ist einer der bekanntesten Urteilssprüche des Obersten Bundesgerichts, da die Miranda Warnings häufig in amerikanischen Filmen und im Fernsehen dargestellt werden. Im Jahre 1999 zweifelte jedoch ein Bundesberufungsgericht die Entscheidung im Fall Dickerson gegen die Vereinigten Staaten an, in dem ein verurteilter Bankräuber geltend machen wollte, er wäre nicht genau über seine Rechte belehrt worden. Im Juni 2000 hob das Oberste Bundesgericht das Urteil Dickerson in einer 7:2-Entscheidung auf, was die Gültigkeit der Miranda Warnings unterstrich.
NEW YORK TIMES CO. GEGEN SULLIVAN (1964)
Der erste Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert die Pressefreiheit. Über Jahre hinweg lehnte es das Oberste Bundesgericht jedoch ab, den ersten Zusatzartikel zum Schutz der Medien vor Verleumdungsklagen anzuwenden – also Klagen, die aufgrund der Veröffentlichung falscher Informationen, die den Ruf einer Person schädigen, angestrengt wurden. Das Oberste Bundesgericht revolutionierte durch seine Entscheidung im Fall New York Times Co. gegen Sullivan das Klagerecht wegen Verleumdung in den Vereinigten Staaten, indem es urteilte, dass Beamte für eine erfolgreiche Klage wegen Verleumdung nicht nur nachweisen müssen, dass die veröffentlichten Informationen falsch sind. Das Gericht entschied, dass in der Klage ebenfalls nachgewiesen werden muss, dass Reporter oder Herausgeber "tatsächlich arglistig" handelten und Informationen "unter fahrlässiger Missachtung ihrer Richtigkeit oder Falschheit" veröffentlichten.
Der Fall ging auf eine ganzseitige Anzeige der Southern Christian Leadership Conference in der New York Times zurück, um Geld für die rechtliche Verteidigung des Bürgerrechtlers Martin Luther King jr. zu sammeln, der 1960 in Alabama verhaftet worden war. L. B. Sullivan, ein Polizeichef in Montgomery (Alabama), behauptete, dass die Anzeige ihn durch die falsche Darstellung der Maßnahmen der städtischen Polizei verleumde. Sullivan verklagte die vier Geistlichen, die die Anzeige in die New York Times gesetzt hatten, die wiederum nicht die Richtigkeit der Angaben in der Anzeige überprüft hatte.
Die Anzeige enthielt mehrere Ungenauigkeiten und eine Jury sprach Sullivan 500.000 Dollar zu. Die Times und führende Bürgerrechtler legten gegen die Entscheidung vor dem Obersten Bundesgericht Beschwerde ein, und das Gericht entschied einstimmig zu ihren Gunsten. Das Gericht urteilte, dass Verleumdungsklagen nicht eingesetzt werden können, um "Strafen wegen kritischer Äußerungen bezüglich des offiziellen Verhaltens von Beamten durchzusetzen", und dass die Forderung, Kritiker müssten die Richtigkeit der Angaben gewährleisten, zu Selbstzensur führen würde. Das Gericht sah keine Beweise dafür, dass die Times oder die Geistlichen diese Anzeige in böswilliger Absicht veröffentlicht hatten.
Originaltext: "Landmark Decisions of the Supreme Court" aus der Broschüre "Outline of the U.S. Government ", die vom Büro für internationale Informationsprogramme des US-Außenministeriums herausgegeben wurde. (erschienen im Amerika Dienst, 28. Oktober 2005)
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