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The U.S. in 2005 - Who We Are Today

Die amerikanische Identität
von Marc Pachter

Der Autor untersucht den "fortdauernden Gesellschaftsvertrag", der den Vereinigten Staaten von Amerika zugrunde liegt und die nationale Gemeinschaft und Kultur definiert. "Von Anfang an gab es in der Hauptströmung amerikanischer Politik wenig Utopismus, wenige Vorstellungen eines idealen Staates oder eines idealen menschlichen Zustands, der durch soziale Planung geschaffen werden sollte", schreibt er. "Es ist vielmehr gerade der Zustand des Strebens, Werdens, die Erfahrung ungehinderten Lebens, der die nationale Fantasie anregt." Besonders aufschlussreich sind bestimmte Worte wie Freiheit, Individualismus, Mobilität und Pragmatismus, die die amerikanische Geisteshaltung direkt ansprechen. Die aktuelle landesweite Debatte über amerikanische Werte stellt nicht deren Ablehnung dar, sondern eine Überprüfung ihrer Anwendbarkeit auf erweiterte Gegebenheiten. Die schwierige Frage, die von der amerikanischen Demokratie beantwortet werden muss, war schon immer die nach der Beziehung zwischen Gleichheit und Freiheit.

English

"Die die Vereinigten Staaten durchziehende politische Aktivität muss man sehen, um sie verstehen zu können. Sobald man amerikanischen Boden betritt, ist man von einer Art Tumult überwältigt. ... Es ist nicht möglich, das Streben nach Glück mit größerer Anstrengung zu betreiben."

-Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in America


Versuche, das Wesen der amerikanischen Gesellschaft zu definieren, beginnen oft mit einem Zitat aus "Über die Demokratie in Amerika", Alexis de Tocquevilles Meisterwerk aus dem 19. Jahrhundert. Es ist erstaunlich, dass ein Buch, das vor über 150 Jahren über ein Land geschrieben wurde, von dem angenommen wird, dass es unaufhörlichem Wandel und unbarmherziger Modernität ausgesetzt ist und keinerlei Sinn für Traditionen besitzt, immer noch so wahr und wie die Beschreibung einer gegenwärtigen Situation erscheint. Noch erstaunlicher ist es, dass Tocquevilles Studie einer hauptsächlich ländlichen, protestantischen und angelsächsischen Bevölkerung (mit afroamerikanischen Sklavenarbeitern) noch irgendeine Gültigkeit für die städtische, industrialisierte, multikulturelle Nation haben sollte, die heute von Millionen von ruhelosen Menschen bewohnt wird.

Wenn Beobachtungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch auf die Vereinigten Staaten [des frühen 21. Jahrhunderts] zutreffen, wäre es nur logisch anzunehmen dass ein die Zeit überdauerndes "Kernstück" der Wesensart der amerikanischen Gesellschaft existiert. Um dieses Kernstück jedoch verstehen zu können, muss zwischen der amerikanischen nationalen Identität und der traditioneller Gesellschaften unterschieden werden, die ihre Identität aus einem gemeinsamen Glauben, gemeinsamer Volkszugehörigkeit und gemeinsamen Erinnerungen ableiten. Das Sprechen über eine amerikanische Identität erfordert, dass wir erneut untersuchen, was eine nationale Gemeinschaft zusammenhält und was eine nationale Kultur ausmacht.

Vollständig gemäß der offiziellen Definition amerikanischer Bürger zu sein, setzt keine die Vorfahren betreffende Verbindung zum Land, zu seinen vorherrschenden ethnischen Kulturen oder religiösen Traditionen voraus. Amerikaner als Individuen nehmen an einer Vielzahl historischer Kulturen teil, was sie teilen, ist jedoch etwas ganz anderes. Ein fortdauernder Gesellschaftsvertrag und der energiegeladene Prozess, den dieser ausgelöst hat, liegen ihrer nationalen Identität zugrunde. Dieses Essay hat die Aufgabe, die Bedeutung dieses Vertrags und die Entwicklung dieses Prozesses zu beschreiben.

ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT UND VERANTWORTUNG

Eine Mitgliedschaft in der amerikanischen nationalen Gemeinschaft setzt nur die Entscheidung voraus, Amerikaner zu werden – eine politische Entscheidung, die auch eine moralische Dimension enthält. Alle Amerikaner, einschließlich der im Land geborenen, werden als Amerikaner aus "freier Entscheidung" und nicht lediglich als Amerikaner aufgrund eines gemeinsamen historischen Erbes betrachtet. Die Begeisterung für Entscheidungsfreiheit könnte sogar die zentrale Dynamik und den Wert der Gesellschaft ausmachen. Diese aktive Form der Freiheit setzt nicht nur die Abwesenheit politischer oder wirtschaftlicher Einschränkungen voraus, sondern auch die Chance, von einem breitgefächerten Angebot von Möglichkeiten auswählen zu können. Die Kultur frönt diesem Wert auf trivialste Weise durch das Angebot einer endlosen und oft bedeutungslosen Vielfalt von Kaufoptionen.

Auf tieferer Ebene existiert in der Liebe zur Entscheidungsfreiheit eine Erinnerung an die Chance, der Ausweglosigkeit des Lebens in von Abstammung bestimmten Kulturen zu entrinnen und in einer Neuen Welt das Leben zu schaffen, das man führen will. Viele Amerikaner wiederholen dieses Migrationsmuster, indem sie in der Tat in einen westlichen Bundesstaat ziehen oder indem sie symbolisch in ihrem Berufs- oder Privatleben nach neuen Anfängen und zweiten Chancen suchen. Obwohl die tragischen Erfahrungen der amerikanischen Ureinwohner und Afroamerikaner jahrelang eine Verspottung des nationalen Ethos der Entscheidungsfreiheit darstellten, fordern auch sie heute das Recht ein, ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können und an den Chancen teilzuhaben, die als amerikanisches Geburtsrecht angesehen werden.

Die Vereinigten Staaten glauben an Selbstbestimmung und das Konzept des Selfmademan bzw. heute der "Selfmadewoman". Diesem Glauben liegt die Überzeugung zugrunde , dass Ererbtes und Abstammung lange nicht so wichtig sind wie der Weg, den man für sich selbst wählt und die Energie, die man in diese Entscheidung steckt. Die amerikanischen Helden "kommen von nirgendwo" und "schaffen es alleine". ... Abgesehen von den unbeugsamen und ketzerischen Einschränkungen des Konzepts Rasse, auf das später eingegangen werden soll, gehen die Amerikaner bei sich selbst und anderen davon aus, dass die Herkunft ihr Leben zwar bereichert, aber nicht ihr Schicksal prägt.

Obwohl dieses Konzept des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen freien Willens als Annahme und Ideal befreiend ist, bringt es auch die Last der Verantwortung für das eigene Schicksal mit sich. In einer Gesellschaft, die sich im ewigen Zustand des Werdens befindet, gibt es keine gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Absolute und keine Entschädigung für die Unfähigkeit, sein Leben zu verbessern, aus welchem Grund auch immer. Wenn Ambitionen frustriert werden und Wohlstand ausbleibt, sehen die Amerikaner darin eine Perversion der natürlichen Weltordnung.
Obwohl eine Begeisterung für Entscheidungsfreiheit die Triebkraft des amerikanischen Individualismus ist, kann sie auch selbstsüchtiges Verhalten korrigieren. Aus dem Blickwinkel traditionellerer Gesellschaften erscheinen die Vereinigten Staaten als eine Nation versprengter Individuen im gesellschaftlichen freien Fall; sie haben aber den Sinn sozialer Verantwortung nicht abgeschafft. Sie haben lediglich seine erbliche Grundlage ersetzt.

Die Amerikaner treten Vereinen bei, melden sich freiwillig für Ehrenämter und sind Philantropen. Sie befürworten eine Reihe von aus freien Stücken übernommenen Pflichten und Aufgaben und setzen ihren Individualismus so für soziale Zwecke ein. Wenn Europäer, Asiaten, Afrikaner und Lateinamerikaner sich über den Mangel an Zugehörigkeitsgefühl zu einer Großfamilie, an Ahnenverbindungen und Klassenstrukturen in den Vereinigten Staaten wundern, wundern sich die Amerikaner gleichermaßen über das, was sie als kleinliche Abneigung seitens der Mitglieder traditioneller Kulturen gegenüber nichtreligiösen oder nichtfamiliären Möglichkeiten ehrenamtlicher Tätigkeit und der Spendenbereitschaft für gute Zwecke sehen.

EKLEKTIZISMUS ALS WERT


Die amerikanische Gesellschaft hat die Ethik der Entscheidungsfreiheit mit einer endlosen Vielfalt von Traditionen, Ideen und Chancen verknüpft. Das Gemisch aus Menschen und Bräuchen im täglichen amerikanischen Leben und der dramatische Bruch, den die meisten Gemeinschaften aufgrund ihrer Auswanderung aus der Heimat erfahren haben, hat zu einer Praxis des Ausprobierens und Borgens und der Vermischung von Stilen, Ritualen und vor allem Speisen geführt. Dieser Eklektizismus, der historisch einheitlicheren Kulturen chaotisch erscheinen mag, ist in den Vereinigten Staaten zu einem eigenen Wert und einem Zeichen für Vitalität geworden. Er ist es, der einem Großteil der Kunst und Literatur des Landes letztlich nationalen Ausdruck verleiht. Die amerikanischen Künstler, Schriftsteller und Architekten haben es sich zu ihrem Vorrecht gemacht, aus Elementen fremder und einheimischer Kulturen auszuwählen und sie zu einem neuen amerikanischem Ganzen zusammenzufügen.

Die dem amerikanischen Werte-, Glaubens- und Identitätssystem zugrunde liegende Dynamik fand ihren lyrischsten frühen Ausdruck in den "unveräußerlichen Rechten" aller Menschen, die in der Unabhängigkeitserklärung 1776 als "Leben, Freiheit und Streben nach Glück" definiert wurden. Thomas Jefferson, Verfasser der Erklärung, nannte nicht das Glück selbst das Recht aller Amerikaner und der gesamten Menschheit, sondern das "Streben" danach. Von Anfang an gab es in der Hauptströmung amerikanischer Politik wenig Utopismus, wenige Vorstellungen eines idealen Staates oder eines idealen menschlichen Zustands, der durch soziale Planung geschaffen werden sollte. Es ist vielmehr gerade der Zustand des Strebens, Werdens, die Erfahrung unbehinderten Lebens, der die nationale Fantasie anregt. Die Worte, die Amerikaner bewegen, sind aufschlussreich: "Freiheit", "Mobilität", "Individualismus", "Chancen", "Energie", "Pragmatismus", "Fortschritt", "Erneuerung", "Wettbewerb". Dies sind keine trockenen, beschreibenden Worte – sie sprechen die amerikanische Geisteshaltung direkt an.

Bill Clinton wählte in seinem von Erfolg gekrönten Wahlkampf 1992 eines der sinnträchtigsten Wörter in der amerikanischen Geschichte zu seinem Wahlkampfmotto: "Veränderung". Ein Teil der Anziehungskraft des Konzepts Veränderung in der amerikanischen Kultur geht auf die Hoffnung zurück, dass jede Veränderung zu einer Verbesserung führt. Aber die optimistische Erwartung, dass Veränderung gerade aufgrund dieser Tatsache mit Fortschritt gleichgesetzt werden kann, ist weniger wichtig als die starke Tendenz, Permanenz in der Amtsgewalt oder Politik zu misstrauen oder sogar zu fürchten. Während der Diskussion über die Billigung der amerikanischen Verfassung warnte Thomas Jefferson davor, dass schon die Wiederwahl eines Präsidenten nach dessen erster vierjähriger Amtszeit – ohne einen automatischen Wechsel – dazu führen könnte, dass dieser Präsident ein "Amtsinhaber auf Lebenszeit" wird. Jeffersons Sorge rührte von der grundsätzlichen amerikanischen Annahme her, dass Souveränität vom Volk ausgeht und nur vorübergehend und mit Bedingungen dem Amtsinhaber verliehen wird.

EINSCHRÄNKUNGEN DER AMTSGEWALT

Die dynamische und widerstreitende Natur des amerikanischen politischen Prozesses soll eine Garantie gegen eine Verschanzung im Amt bieten. Keiner Partei oder Einzelperson darf zu lange die Autorität eines Amts übertragen werden, da Menschen bestechlich und politische Maßnahmen schnell überholt sind. Wenn eine Partei zu lange im Weißen Haus ist, steigt die Unruhe bei den Wählern - sie halten keiner politischen Idee oder Führung dauerhaft die Treue. Die Dynamik des Systems selbst gibt den Amerikanern, was sie brauchen und worauf sie vertrauen: ein Kräftegleichgewicht, eine Überwachung der Wahrheit durch Herausforderung und Aufdeckung, die Erinnerung an die Dünkel und Gefahren der Macht, an die Vorteile von Veränderung, Wachstum und des Experimentierens und nicht zuletzt der Reiz eines Neustarts.

Paradoxerweise erreichen die Vereinigten Staaten demnach Kontinuität durch ein Beharren auf Veränderungen und Stabilität durch das Zulassen von Konflikten. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein derbes Wahlsystem, sondern vielmehr eine in das Rahmenwerk der Regierung integrierte Strategie. Der Historiker Michael Kammen beschrieb das 1789 durch die Gestalter der Verfassung in Gang gesetzte System als "Konflikt im Konsens". Ein anderer Historiker, Marcus Cunliffe, formuliert es wie folgt: "Sie bauten in das Dokument absichtlich Spannungen als Schutz gegen Korruption und Diktatur ein."

Das ist sicherlich kein Rezept für Effizienz. Obwohl im amerikanischen Technik- und Managementbereich Effizienz als anzustrebendes Ideal angesehen wird, hegt die Nation als politische Kultur ein tiefes Misstrauen gegenüber langfristiger Planung, Machtkonzentration und zu reibungsfreien Entscheidungsprozessen. Die konstitutionelle Regierung vereitelt durch die Gewaltenteilung und das System der gegenseitigen Kontrolle absichtlich geeinte Aktionen. Dieses politische System kann im Falle der Abwesenheit von staatsmännischen Kompromissen oder Übereinstimmung der politischen Philosophie von Exekutive, Legislative und Judikative zu Konflikten, Frustration und zeitweiligem Stillstand führen und tut dies auch. Aber es ist auch fast eine Garantie gegen unberechtigte Machtanmaßung.

Das politische System fördert zudem den Balanceakt der Machtverteilung auf Landes-, Bundesstaaten- und Kommunalbehörden, was auf nationaler Ebene zu starker Zurückhaltung bei der Vorgabe von politischen Maßnahmen in zahlreichen Bereichen führt. Die Vereinigten Staaten haben kein einheitliches Bildungssystem, kein Kultusministerium und bis heute kein direkt von Washington aus gesteuertes Gesundheitssystem. Politische Entscheidungen in diesen und anderen Bereichen werden hauptsächlich durch Überzeugung, Koordination, Koalitionsbildung, parteiübergreifende Verhandlungen und die Arbeit in Wahlkreisen, Interessenverbänden sowie Regionen herbeigeführt. Der große Privatsektor, der die freigesetzte Energie eines offenen Marktes der Ideen, Programme und Ressourcen widerspiegelt, spielt eine sehr wichtige Rolle. Die misstrauische Presse ist ein weiterer wichtiger Akteur.

Amerikanisches Original:
Die Religionsfreiheit

Thomas Jefferson

Thomas Jefferson (1743-1826) war ein starker Verfechter der politischen und religiösen Freiheit und Verfasser des wertvollsten Dokuments der Vereinigten Staaten, der Unabhängigkeitserklärung. Die Zeilen "Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen worden sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und Streben nach Glück gehören" – gehören zu den ersten, die amerikanische Schüler auswendig lernen. Jeffersons Gesetz über Glaubensfreiheit (Virginia Statute of Religious Freedom, 1786) garantierte die Freiheit religiöser Glaubensausübung und verbot dem Staat, die Unterstützung einer bestimmten Religion vorzuschreiben oder einer bestimmten Religion finanziell öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Jefferson war 1801 bis 1809 der dritte Präsident der Vereinigten Staaten. Zuvor war er Außenminister und Vizepräsident sowie US-Gesandter in Frankreich. Er war gelernter Architekt, Linguist und Naturwissenschaftler und man sollte sich aufgrund von drei Dingen an ihn erinnern: als Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, des Gesetzes über Glaubensfreiheit und als Gründervater der University of Virginia.

GLEICHHEIT GEGEN FREIHEIT

Trotz der Tradition einer gezügelten Regierung haben viele Amerikaner im letzten Jahrhundert eine neue Sichtweise der Rolle des Staates vorgeschlagen. Wenn eine Gesellschaft nur aus dem Joch der Regierung entlassen werden muss, um die Vorzüge der Freiheit zu genießen, ist die Aufgabe politischer Reformen vollendet, wenn die schlimmsten Tendenzen der Regierung ausgeglichen und soziale Energien freigesetzt wurden. Aber das setzt voraus, dass die zugrundeliegenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten eine gerechte Teilnahme an allen Vorzügen der Freiheit ermöglichen oder dass umgekehrt nur bestimmte Mitglieder einer Gesellschaft als aktive Teilnehmer in Frage kommen. Generationen von amerikanischen Reformern haben gefordert, dass ihre Gesellschaft jene anerkennen sollte, die sie in der Vergangenheit ausgeschlossen hat, und dass die Regierung dann ihre Freiheit, am amerikanischen Versprechen teilzunehmen, garantieren sollte. Sie wurden durchweg von anderen angegriffen, die einen Machtzuwachs der Regierung als Angriff auf die Freiheit fürchten. Letztendlich war die Frage an die amerikanische Demokratie schon immer leicht zu stellen aber schwer zu beantworten: Welche Beziehung besteht zwischen Gleichheit und Freiheit?

An den Maßstäben des 18. Jahrhunderts gemessen hatte die neue Nation die Idee des politischen Einvernehmens radikalisiert, indem die letzte Entscheidung bei den Bürgern lag, die laut der Unabhängigkeitserklärung "gleich geschaffen" waren. Die tatsächliche Teilnahme an der neuen politischen Gemeinschaft der Vereinigten Staaten war jedoch auf eine Art und Weise eingeschränkt, die die meisten modernen Amerikaner unerträglich und sogar unbegreiflich fänden.

Der Bürgerkrieg in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts beendete die Obszönität der Sklaverei in einer freien Gesellschaft und wurde durch den 14. und 15. Verfassungszusatz ergänzt, der der Hälfte der afroamerikanischen Bevölkerung politische Rechte erteilte. Die weibliche Bevölkerungshälfte musste auf die Verabschiedung des 19. Verfassungszusatzes im Jahre 1920 warten, durch den endlich die größte Gruppe entrechteter Amerikaner in die politische Gemeinschaft aufgenommen wurde.
Die politischen Rechte wurden mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1964 (Civil Rights Act) und dem Wahlrechtsgesetz von 1965 (Voting Rights Act) weiter gesetzlich verankert. Aber auch nach einigen Jahren der bewussten, gezielten Durchsetzung grundlegender politischer Rechte und der drängenden Forderungen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung blieb die grundlegendste Frage nach Gleichheit als Vorraussetzung von Freiheit in der amerikanischen Kultur Mitte des Jahrhunderts noch unbeantwortet. Gerechter und gleicher Zugang zu politischen Rechten, wenn sie schließlich beschlossen sein sollten, reichten als Garantie der vollständigen Teilhabe aller Bürger am Versprechen des amerikanischen Lebens nicht aus. Jegliche Argumentation, dass diese Ungleichheit der Umstände auf "immanente" Einschränkungen der ausgeschlossenen Gemeinschaften und Kategorien von Amerikanern zurückzuführen seien, bedrohte die Idee des amerikanischen Individualismus. Schon die Idee, dass eine Person in einem Schicksal engstirniger Dramen der Klassen-, Ethnien- und Geschlechtszugehörigkeit gefangen sein könnte, erschien verabscheuungswürdig. Wenn es sich stattdessen um künstliche von der Gesellschaft errichtete Hindernisse – vor allem Rassismus, aber auch Sexismus und gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren – handelte, so argumentierten einige, müsse die Frage vielmehr lauten: Welche Verantwortung trägt die Nation?

Reformer haben sich allgemein dafür ausgesprochen, innerhalb des Rahmens der amerikanischen Dynamik zu intervenieren. Die Regierung wurde während der fortschrittlichen Ära des frühen 20. Jahrhunderts als aktiver Akteur im wirtschaftlichen Leben der Nation eingeführt und wandelte sich in Franklin Delano Roosevelts Regierung des New Deal [Mitte des Jahrhunderts] zu einem Gegengewicht der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte, die die Gerechtigkeit der Gesellschaft bedrohten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die sozialpolitische Stimmung noch aktivistischer, und man versuchte, die Bedingungen, unter denen sich die Amerikaner vorbereiten, behaupten und interagieren, zu beeinflussen. In der jüngeren Vergangenheit spiegelte die Sozialpolitik die grundlegende Frage nach der Rolle der Regierung wider: Wie und in welchem Ausmaß können die sozialen Einrichtungen in einer Gesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen belohnt und tatsächlich auf diesem Prinzip gegründet wurde, reguliert werden, und wie kann Eigeninitiative, Motivation und Selbstständigkeit gewürdigt werden?

Wenn die meisten Amerikaner über Gleichheit sprechen, meinen Sie Chancengleichheit, nicht Gleichheit bezüglich der Ergebnisse. Von Anfang an haben sich die Amerikaner selten für eine Gesellschaft mit gleichem Eigentum oder gleichen Bedingungen ausgesprochen oder sich für eine solche engagiert. Ein Teil des amerikanischen Traums ist der Glaube, der "Wert", dass Einzelpersonen, die sich bezüglich ihrer Eigeninitiative, Energie und Talente unterscheiden, die verschiedenen Früchte ihres Erfolgs ernten sollten. Es soll keine Garantie auf gleiche Ergebnisse geben. Die meisten Amerikaner wollen keine gleiche Gesellschaft, sie wollen gleiche Ausgangsbedingungen.

Oder doch nicht? Es ist ein immerwährendes Dilemma des amerikanischen Lebens, dass Verallgemeinerungen über die Ziele, Werte und Bedingungen der Gesellschaft versagen, wenn sie mit dem hartnäckigen Vermächtnis der Rassentrennung konfrontiert werden. Es trifft aber ebenso zu, dass die Amerikaner seit langem scharfe Selbstkritik, leidenschaftliche Rhetorik und den Zusammenprall sozialer Kräfte dafür genutzt haben, sich selbst voranzutreiben. Das Klagelied der Warnungen vor einem Niedergang der einzelnen Gemeinschaften oder der Nation als Ganzes reichen zurück bis in die Zeit der Puritaner. Damals und in den Zeiten danach diente es als Anreiz für Veränderung und Taten und als Maß der amerikanischen Ungeduld und unbeugsamen Erwartungen.

Der allgemeine Aktivismus Ende des 20. [und Anfang des 21.] Jahrhunderts fordert eine Erfüllung der Logik hinter der amerikanischen Demokratie. Die Frage hat nicht nur eine politische und wirtschaftliche, sondern auch eine kulturelle Dimension. Auch wenn die allgemeinen Werte der Gesellschaft "Amerikaner sein" eher als die Teilnahme an einem Gesellschaftsvertrag an einem bestimmten Erbe definierten, bestand die Annahme fort, dass der wahre, richtige Amerikaner eine bestimmte ethnische und kulturelle Herkunft (angelsächsisch, später auf europäisch ausgeweitet), einen bestimmten Glauben (protestantisch, nach Jahren der Feindseligkeit um den katholischen Glauben und, noch zögerlicher, den jüdischen Glauben erweitert) sowie aus Gründen des politischen und wirtschaftlichen Status ein bestimmtes Geschlecht hatte (männlich). Die Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschende Vorstellung des Schmelztiegels bedeutete, zumindest für einige Gemeinschaften, dass sie nicht in ein bestimmtes Erbe geboren werden mussten, sondern dass erwartet wurde, dass sie kulturell sowie politisch Amerikaner wurden, um letztendlich die Unterschiede zur Mehrheit der Amerikaner abzulegen.

Das Argument für die Anerkennung der Vielfalt der Kulturen und Hintergründe nicht nur als Grundlage der amerikanischen Wirklichkeit, sondern auch der amerikanischen Ideale, zwang die Gesellschaft, die Auswirkungen ihres ungewöhnlichen Konzepts der nationalen Gemeinschaft als Prozess und Interaktion erneut zu erörtern. Seit den sechziger Jahren haben die Befürworter der Vielfalt darum gewetteifert, eine angemessene Metapher für die amerikanische Gesellschaft zu finden, die einbezieht und nicht ausgrenzt oder einschmilzt. Jede Generation von Amerikanern trieb das Konzept der amerikanischen Verschmelzung von Meinungen, Völkern, Glaubensrichtungen, Kulturen und erst kürzlich Sprachen so weit, dass viele fürchteten, dass das Zentrum nicht mehr stabil genug sei. Bis jetzt macht die Bilanz des nationalen Zusammenhalts Hoffnung für die Zukunft, aber diese Zukunft erscheint bei Weitem nicht allen selbstverständlich. Unter einigen Mitgliedern der großen Bevölkerungsgruppen herrscht die Sorge, dass sich das nationale Gefüge auflöst; einige Mitglieder von Minderheitengruppen glauben, dass sie nie wirklich in den amerikanische Schmelztiegel aufgenommen werden.

WERTE AUF DEM PRÜFSTEIN

Die aktuelle [Debatte über] amerikanische Werte stellt auch in anderen Bereichen nicht deren Ablehnung dar, sondern eine Überprüfung ihrer Anwendbarkeit auf erweiterte Gegebenheiten. Der Zulauf der amerikanischen Frauenbewegung ist eine Erinnerung daran, dass mehr als die Hälfte aller Amerikaner aufgrund biologischer Merkmale von der politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Teilnahme an der Dynamik des amerikanischen Lebens ausgeschlossen werden sollte. Die Geschlechterbarriere ist noch nicht komplett überwunden, wird aber kontinuierlich angegriffen. Im fortdauernden Kreislauf amerikanischer Erwartungen sind auch soziale Konstrukte wie das der Familie gefangen, die immer wieder empfänglich für eine Überprüfung anhand der Ethik der Entscheidungsfreiheit und Selbstverwirklichung sind. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts änderten die Amerikaner ihre Heiratstraditionen und führten die freie Partnerwahl ein. Dieses Konzept wurde im Laufe der Zeit erweitert: auf das Recht, ohne den "Segen der Kirche" zusammenzuleben, zu heiraten und sich dann scheiden zu lassen oder sogar auf eine Debatte über die Definition des Begriffs Familie innerhalb oder außerhalb rechtlicher Rahmenbedingungen. Heute führen die Beziehungen zwischen Kindern und ihren Eltern sowie jüngeren und älteren Generationen zu einer Neudefinition der Grenzen von Autorität und Mündigkeit, die früher undenkbar gewesen wäre.

All dies sind aktuelle amerikanische Tendenzen, in gewisser Weise, wenn auch in niedrigerem Ausmaß, aber für alle demokratischen Industrienationen symptomatisch. Die Amerikaner müssen anfangen, sich Gedanken zu machen, inwieweit die Kultur, die sie einst zu etwas Einzigartigem machte, zumindest in einigen Aspekten die Kultur des globalen Modernismus geworden ist. Es war ein Schock zu sehen, dass (einige asiatische Länder) aufgrund ihrer technologischen und industriellen Entwicklungen als Nationen des 21. Jahrhunderts gefeiert werden, dass Westeuropa mit dem Konzept eines großen Staatenbunds und einer dynamischen Nationengemeinschaft gleichgesetzt wird und die aufstrebenden, wenn auch gepeinigten Demokratien Mittel- und Osteuropas mit den Hoffnungen von begeisterten Wählern identifiziert werden.

Trotz allem sind sich die Amerikaner der Vorteile ihrer langen Geschichte der politischen Offenheit und Veränderung, Toleranz, Auseinandersetzung, des Unternehmergeists und der kulturellen Vielfalt bewusst. Ihre Geschichte der Anpassungsfähigkeit kann während der andauernden Erschütterungen des globalen Modernismus als Formel für Stabilität dienen und nationale Traditionen bestätigen, statt sie auszuhöhlen.


Marc Pachter ist Leiter der National Portrait Gallery Smithsonian Institution in Washington. Er war zuvor stellvertretender Abteilungsleiter für External Affairs der Smithsonian Institution, Autor und Herausgeber einiger Bücher und nahm an zahlreichen Radio- und Fernsehprogrammen über amerikanische kulturelle und historische Themen teil. Dieser Artikel ist eine gekürzte Neuauflage von "Identities in North America, The Search for Community", herausgegeben von Robert L. Earle und John D. Wirth. Copyright © 1995 des Board of Trustee of Leland Stanford Jr. University. Alle Rechte vorbehalten. Verwendet mit Genehmigung der Stanford University Press www.sup.org.

Originaltext: The American Identity; The United States in 2005: Who We Are Today. December 2004.

 
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