Wir müssen aus dieser großen Krise eine Chance machen - Angst
darf nicht unser Ratgeber sein
CDU-Vorsitzende Dr. Angela Merkel
19. September 2001
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
"Wir werden das World Trade Center wieder aufbauen"
- der New Yorker Bürgermeister Rudolf Giuliani hat diesen Satz
vor ein paar Tagen gesagt. Inmitten der größten Katastrophe,
die Amerika je heimgesucht hat, inmitten all der Zerstörung,
inmitten all des Leids, der Toten und der Verletzten, sagt er, ein
wenig trotzig, vor allem aber entschlossen und mutig: "Wir
werden das World Trade Center wieder aufbauen." Wie wir die
Amerikaner kennen, werden sie es wahrscheinlich größer
und schöner bauen als je zuvor. Das imponiert mir, das imponiert
vielen Menschen.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Es kann niemand sagen,
dass die Menschen in den Vereinigten Staaten bei dem, was sie erlebt
haben, und bei dem, was geschehen ist, nicht mindestens so viel
Verzweifelung empfinden wie wir. Es kann niemand sagen, dass die
Mütter und Väter in den USA oder in Großbritannien
nicht die gleichen Ängste haben wie die Mütter und Väter
in Deutschland - vor dem, was geschehen ist, aber auch vor dem,
was jetzt kommen mag. Ich will hinzufügen: Ich finde diese
Angst verständlich. Sie drückt die Fassungslosigkeit aus.
Sie ist ein Maß für die Ungewissheit über das, was
kommt. Sie lässt bei vielen Erinnerungen wieder aufkommen oder
aber Gelesenes fast real erscheinen.
Ich bin fest davon überzeugt: Angst darf nicht unser Ratgeber
sein. Deshalb hat Giuliani etwas ganz Besonderes geschafft: Er hat
ausgedrückt, was es bedeutet, den Sieg der Freiheit gegenüber
dem Terror durchzusetzen. Diese Worte von Giuliani fassen für
mich die Entschlossenheit zum Sieg der Menschenwürde gegenüber
der Barbarei in Worte. Sie stehen auch in der Stunde der größten
Not dafür, dass wir nicht kapitulieren vor Feigheit und Zerstörungswut.
Das ist der Geist, der die Menschen nicht im Geschehenen gefangen
nimmt, sondern der sie aus Trauer und Verzweiflung wieder ausbrechen
lässt. Das ist der Geist einer Debatte, die der Zukunft zugewandt
ist. Das ist der Geist, den ich mir auch für die kommenden
Debatten in Deutschland wünsche und der auch von der heutigen
Debatte ausgehen muss; denn verantwortungsbewusste Politik - ob
in der Regierung oder in der Opposition - war und bleibt immer eines:
die Gestaltung der Zukunft. Es ist vielleicht ein oft dahingesagtes
Wort, aber es sollte gerade auch in den kommenden Wochen der Kern
unseres Handelns bei allen Entscheidungen -, ob im Nordatlantischen
Bündnis oder in der Europäischen Union, ob in der Regierung
oder in der Opposition, - sein: jeder in seiner Rolle, jeder an
seinem Platz. Genau deshalb nehmen wir als Union unsere Aufgabe
als kritischer Wächter, aber auch als zuverlässiger Begleiter
der Bundesregierung sehr energisch und konsequent wahr.
Es ist richtig, dass das, was am 11. September stattgefunden hat,
eine Kriegserklärung an die zivilisierte Welt ist. Der 11.
September war eine Zäsur. Heute sind wir dabei, zum ersten
Mal auch über die Konsequenzen und Folgerungen zu beraten.
Es geht dabei um sehr konkrete Konsequenzen in wirtschaftlicher
Hinsicht, in politischer Hinsicht, in diplomatischer Hinsicht und
- um das ganz ausdrücklich hinzuzufügen - auch in militärischer
Hinsicht. Es geht darum, dass wir einer vollkommen neuen Lage gegenüberstehen.
Es ist in den letzten Tagen viel von Dankbarkeit, ja sogar von
Schuld die Rede gewesen, in der gerade wir Deutschen nach 50 Jahren
Beistand durch die Amerikaner gegenüber den USA stünden.
Das ist ohne Zweifel richtig. Aber wäre es das allein, es würde
auf Dauer nicht tragen. Eine wahre Freundschaft lebt auch, aber
nicht allein von Dankbarkeit. Wahre Freundschaft lebt von ihrer
Tragfähigkeit für die Zukunft.
Der Bundeskanzler hat deshalb Recht, wenn er von uneingeschränkter
Solidarität mit den NATO-Partnern und den USA spricht. Er hat
Recht, wenn er sagt: Es darf nicht heißen "wasch mir
den Pelz, aber mach mich nicht nass". Deshalb füge ich
hinzu: Eine tragfähige Partnerschaft zwischen den Staats- und
Regierungschefs innerhalb des Bündnisses der NATO, der Europäischen
Union und darüber hinaus gründet diese uneingeschränkte
Solidarität auf Selbstbewusstsein zwischen den Partnern. Eine
tragfähige Partnerschaft gründet diese Solidarität
auf aktives Engagement für den anderen. Eine tragfähige
Partnerschaft gründet diese Solidarität auf Taten und
nicht alleine auf Worte:
Meine Damen und Herren, wenn dieser 11. September eine Zäsur
markiert, wenn dieser 11. September ein Tag war, der für die
Geschichte des 21. Jahrhunderts eine ausschlaggebende Bedeutung
hat - ich glaube das -, dann geht es darum, den Gegner genau zu
erkennen, und dann geht es darum, die Ordnung für das 21. Jahrhundert
zu finden.
Nach der Beendigung des Kalten Krieges, Ende der 80er-, Anfang
der 90er- Jahre, gab es Aufsätze und Bücher, in denen
wichtige Autoren vom Ende der Geschichte geschrieben haben. Wir
wissen heute: Die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts haben spätestens
am 11. September ein klares Gesicht bekommen. Wir haben keine Illusionen
mehr über die Gefahren unseres Jahrhunderts. Niemand kann mehr
sagen, er habe es nicht gesehen. Alle Warnungen vor solchen Gefahren
sind durch die Realität übertroffen worden.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir versuchen, aus dieser großen
Krise auch eine Chance zu machen. Es geht um nicht mehr und nicht
weniger als um den Aufbau einer Architektur des 21. Jahrhunderts.
Mit Sicherheit - keine Frage - ist dies eine globale Architektur.
Für mich ist in den letzen Tagen noch einmal ganz deutlich
geworden, wie sehr die zwei Seiten einer Medaille zusammenhängen:
die politische Demokratie und die wirtschaftliche Ordnung einer
globalen Welt. Wir haben dies in Deutschland immer wieder erlebt.
Freiheitliche Demokratie und soziale Marktwirtschaft waren zwei
Seiten einer Erfolgsgeschichte. Genauso wird es in einer globalen
Welt sein.
Von den Gegnern der Globalisierung haben wir viel Kritisches über
die Globalisierung gehört. Ich kann nur sagen: In der letzten
Woche hat die Wirtschaftsordnung eine schwere Bewährungsprobe
bestanden. Das gemeinsame besonnene Vorgehen von amerikanischer
Notenbank und europäischer Zentralbank hat dazu geführt,
dass diese Wirtschaftsordnung im Rahmen des Möglichen einigermaßen
stabil blieb. Dies war ein Riesenerfolg. Wenn der Euro seine erste
Bewährungsprobe bestanden hat, dann war dies in der letzten
Woche. Wir können dankbar sein, dass wir ihn haben.
Jetzt geht es um eine neue politische Ordnung. Kerstin Müller
hat gesagt: Es wird nichts mehr so sein, wie es war. Ich halte das
für falsch. Die Werte, auf die wir diese Ordnung gründen,
werden die gleichen Werte bleiben wie vor dem 11. September. Es
sind die Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität.
Aber wir werden die Linien neu ziehen müssen. Wir werden sehr
klar sagen müssen, wo die Unterschiede liegen. Sie werden gezogen
werden zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Achtung der Menschenwürde
und ihrer Missachtung, zwischen Freiheit und Unfreiheit.
Jeder im internationalen Rahmen und jeder bei uns zu Hause wird
gefragt werden, wie er sich zu diesen Linien stellt. Da wird es
keine Halbheiten geben, da wird es keine Ausflüchte geben.
Deshalb wird sich die Staatengemeinschaft in dieser Krisensituation
auch neu ordnen. Es geht nicht nur um eine neue Architektur der
NATO, es geht genauso um eine neue Architektur von Allianzen, die
in den nächsten Tagen und Wochen ihre Bewährungsproben
zu bestehen haben. Ich halte die Resolution des UN-Sicherheitsrates
für einen ersten Vorboten dieser neuen Architektur. Aber sie
muss sich bewähren und das wird in der Praxis erfolgen.Meine
Damen und Herren, national heißt das für uns auch vieles.
Es heißt auf der einen Seite, dass sich jeder in diesem Lande,
in jeder Vereinigung, in jeder Partei, entscheiden muss, wie er
sich zu den Grundwerten unserer Ordnung stellt. Ich wünsche
mir, dass gerade auch die Vertretungen der ausländischen Bürgerinnen
und Bürgern in unserem Land diese Trennlinie sehr klar ziehen.
Das würde unserer Gemeinsamkeit im Lande und der Integration
sehr helfen.
Es wird für uns heißen, dass wir nicht werden warten
können, bis jemand auf uns zukommt und uns um etwas bittet.
Vor allen Dingen werden wir nicht die Attitüde einnehmen können,
dass der Kelch an uns vielleicht vorübergehe. Es geht in dieser
Stunde um die Fragen: Welche Rolle wird Deutschland in der Welt
des 21. Jahrhunderts spielen? Werden wir in der Lage sein, entsprechend
unserer ökonomischen Kraft auch eine politische Kraft in dieser
Weltordnung zu sein?
Es ist unser ureigenes Interesse, zu klären, inwieweit wir
in diesen Wochen und Monaten zu dem bereit sind, was nach Artikel
5 des NATO-Vertrages von uns mit großer Wahrscheinlichkeit
verlangt werden wird, nämlich die Ausübung und Auslebung
des Bündnisfalles. Es ist das erste Mal, dass wir nach dem
Ende des Kalten Krieges - unserem ureigenen Interesse als wieder
vereinigtes Land folgend - für Freiheitlichkeit einstehen können.
Ich sage dies so betont, weil ich weiß, dass in den neuen
Bundesländern viele Menschen keine Dankbarkeit für 50
Jahre NATO fühlen, wie das in den alten Bundesländern
der Fall ist. Aber auch mit diesen Menschen werden wir darüber
sprechen, dass es keine freiheitliche Ordnung in der Bundesrepublik
Deutschland geben wird, wenn wir jetzt die Zeichen der Zeit verschlafen.
Es ist für mich keine Petitesse, wenn der Regierende Bürgermeister
von Berlin in dieser Auseinandersetzung von "Stellvertreterkriegen"
spricht. Es sind keine Stellvertreterkriege, sondern es waren Angriffe
auf unsere ureigenen Werte; deshalb dürfen wir uns nicht anders
verhalten als andere.
Herr Staatsminister Volmer - als solcher scheinen Sie gesprochen
zu haben -, wenn Sie hier, abweichend von dem, was der Bundeskanzler
gesagt hat, und sogar abweichend von Ihrem eigenen, heute abwesenden
Minister, darum bitten, dass die militärischen Aktionen kurz
seinen, dann kann das nicht der Maßstab sein. Der Maßstab
muss die Frage sein, ob wir unsere Werte wie die Freiheit erfolgreich
verteidigen und mit welchen Mitteln dies am besten gelingt. Deutschland
hat dabei nicht darüber zu entscheiden, ob ihm die Vorgehensweise
der USA passt oder nicht.
Wir dürfen weder Wut noch Angst haben, das dürfen nicht
unsere Ratgeber sein. Sicherlich ist es auch richtig, dass Besonnenheit
gefragt ist. Die Diskussionen der nächsten Wochen deuten sich
aber schon an. Wenn in diesen Tagen von Besonnenheit gesprochen
wird, dann spüre ich durch viele Ritzen, dass dahinter ein
ganz unterschiedliches Verständnis steht. Besonnenheit kann
Entschlossenheit, Mut und richtiges Handeln mit kühlem Kopf
bedeuten. Wenn Besonnenheit jedoch Wankelmütigkeit bedeutet,
dann ist dies nicht unser Verständnis.
Es muss eine Besonnenheit sein, bei der klar wird, dass wir nicht
nur wissen, was wir nicht wollen oder wovor wir uns fürchten,
sondern auch wissen, was wir anstreben und wozu wir uns entschließen.
Das ist das Allerwichtigste. In den nächsten Wochen wird es
um diese Fragen gehen.
Ich sage auch: So wie wir den Schulterschluss mit der Regierung
in dem Kampf gegen die Bedrohung eingegangen sind und auch weiter
eingehen werden, so werden wir die Tatsache, dass dies in der innenpolitische
Debatte eine Zäsur war, nicht einfach wegschieben können.
Verantwortung einer Opposition heißt immer auch Verantwortung
für diejenigen Dinge, die in unserem Lande geleistet werden.
Wenn angeblich, wie Frau Müller gesagt hat, nichts mehr so
ist, wie es war - eine Auffassung, die ich noch nicht einmal teile
-, dann darf der Bundeshaushalt mit Sicherheit nicht das Einzige
sein, was so bleibt, wie es war.
Herr Bundeskanzler, wir sehen uns hier nächste Woche zu einer
anderen Debatte wieder. Diese Debatte wird etwas mit den Fragen
zu tun haben, wie unsere Bundeswehr ausgerüstet ist und wie
unsere innere Sicherheit ausgestattet ist. Genau diese Fragen werden
dann zu beantworten sein. Da wir uns einig sind, dass es sich um
neue Schwerpunkte, um neue Aufgaben handelt, erwarten wir auch einen
neuen Bundeshaushalt.
Herzlichen Dank!
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