Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Weltwirtschaftsforum
2002 in New York
New York
1. Februar 2002
Sehr geehrter Herr Professor Schwab,
verehrte Staats- und Regierungschefs,
verehrte Vertreter der Nicht-Regierungsorganisationen,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Professor Schwab hat schon darauf hingewiesen, und auch ich finde,
dass es eine gute und wichtige Entscheidung war, das Forum hier
in New York stattfinden zu lassen. New York ist ja nicht nur Symbol
für Freiheit und Toleranz und für eine florierende Weltwirtschaft,
sondern auch ein Symbol für die Zuflucht ganz vieler Menschen
aus unterschiedlichen Teilen der Welt vor Verfolgung und Not.
New York ist durch menschenverachtende Terroristen angegriffen worden,
auch als Symbol für die zivilisierte Welt insgesamt. Diese
Anschläge waren also nicht nur ein Angriff auf Amerika, sondern
auf die Wertvorstellungen, an denen wir alle uns orientieren. Das
bedeutet zugleich, dass wir nicht erst durch den 11. September,
aber insbesondere durch ihn, wissen können und müssen,
dass kein Staat der Welt mehr die Sicherheit seiner Bürger
gewährleisten kann ohne ein zunehmendes Maß an internationaler
Kooperation; denn Instabilität in einem Teil der Welt, der
Zusammenbruch von ganzen Volkswirtschaften oder Staaten und die
Erosion kultureller und nationaler Identitäten bedrohen Stabilität
und Sicherheit über einzelne Länder, ja, über einzelne
Kontinente hinweg.
Das bedeutet: Innere und äußere Sicherheit sind in unserer
heutigen Welt nicht mehr voneinander zu trennen. Das bedeutet auch:
Sicherheit ist das Fundament, auf dem eine solidarische, eine gerechte
Gesellschaft aufgebaut ist. Ohne Sicherheit gibt es keine Gerechtigkeit,
keine Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung, ja, keine
friedliche gesellschaftliche Entwicklung überhaupt. Damit gibt
es ohne Sicherheit auch keine friedliche Perspektive für die
Menschheit schlechthin.
Dieses Forum bietet uns die einmalige Chance, die Diskussion um
die Gestaltung der Globalisierung - die ja übrigens längst
vor dem 11. September begonnen hatte - und die Diskussion um die
Verbesserung der Sicherheit in der Welt - die wir seit dem 11. September
verstärkt führen - wieder zusammen zu bringen. Deshalb
kann gerade dieses Forum Anstoß dafür geben, den Dialog
über globale Sicherheit und globale Gerechtigkeit wieder aufzunehmen;
denn ohne globale Gerechtigkeit werden wir keine globale Sicherheit
erreichen, und ohne umfassende Sicherheit werden alle Versuche zur
Entwicklung globaler Gerechtigkeit zum Scheitern verurteilt sein.
Wir müssen im nationalen Maßstab, aber auch in der internationalen
Zusammenarbeit, neue Antworten auf die Bedrohung von Stabilität
und Sicherheit geben. Die Gefahr einer traditionellen kriegerischen
Auseinandersetzung zwischen Staaten ist in vielen Teilen der Welt
gebannt. Die größte Herausforderung unserer Zeit erwächst
aus der so genannten privatisierten Gewalt des internationalen Terrorismus.
Dieser Terrorismus - das ist wichtig zu erkennen - ist nicht die
Folge der Globalisierung. Ganz im Gegenteil: Jene Verunsicherung
über die eigenen Identitäten und Perspektiven, die den
Boden für Terrorismus bildet, entsteht gerade in den Regionen
der Welt im besonderen Maße, die nicht an der Globalisierung
teilhaben.
Der Kampf gegen den Terrorismus - dessen bin ich sicher - wird auf
Dauer nur Erfolg haben, wenn er unter dem Zeichen einer größeren
globalen Gerechtigkeit geführt wird. Das heißt zugleich:
Sicherheit in einem sehr umfassenden Sinne werden wir nur erreichen
in einem Zusammenspiel von materieller, sozialer, ökologischer
und rechtlicher Sicherheit und - das muss ich hinzufügen -
auch nur in einem Klima der Behauptung unterschiedlicher und differenzierter
kultureller Identitäten.
Wenn es an Sicherheit weltweit fehlt, spürt das die Wirtschaft
zuerst. Das ist nach dem 11. September noch einmal sehr deutlich
geworden. Vor den Anschlägen haben wir gesagt: "Wirtschaftliche
Entwicklung braucht Frieden, und Frieden braucht wirtschaftliche
Entwicklung", und das war gewiss richtig. Ergänzend würde
man heute sagen: Sicherheit fördert Entwicklung, aber Entwicklung
fördert auch Sicherheit. Das 21. Jahrhundert hat mit einem
schrecklichen Fanal begonnen, der Zerstörung der Twin-Towers.
Aber ich denke, aus den Trümmern von "Ground Zero"
ist ein neues internationales Bewusstsein und damit auch eine neue
internationale Zusammenarbeit entstanden.
Wir wissen: Gemeinsames internationales Handeln ist vor dem Hintergrund
der immer enger werdenden Verflechtungen unserer Volkswirtschaften
wichtiger denn je. Uns verbindet - gerade auf diesem Sektor - inzwischen
weit mehr als nur der internationale Handel. Internationale Direktinvestitionen
- auch entsprechende Unternehmensverflechtungen - haben im letzten
Jahrzehnt erheblich an Bedeutung gewonnen. Ein Beispiel dafür:
Der Umsatz aus deutschen Beteiligungen in den USA ist heute sechsmal
so hoch wie die deutschen Exporte in die Vereinigten Staaten. Durch
diesen Zusammenhang wirkt sich Wachstumsschwäche, etwa in der
amerikanischen Wirtschaft, direkt - nicht nur vermittelt über
zurückgehenden Export - auf Europa und damit naturgemäß
auch auf Deutschland aus, und umgekehrt gilt das Gleiche.
Es gibt Anzeichen für einen beginnenden Aufschwung in den Vereinigten
Staaten, und gleichzeitig entwickeln sich erfreuliche Signale, dass
sich im Laufe des Jahres auch die wirtschaftliche Entwicklung in
der EURO-Zone und damit in Deutschland zum Besseren wenden wird.
In einer Welt der engen weltwirtschaftlichen Verflechtung braucht
es - dessen bin ich sicher - starke internationale Institutionen,
um gemeinsame grenzüberschreitende Probleme zu lösen.
Wir brauchen daher eine weitere Stärkung der Arbeit der Weltbank,
des Internationalen Währungsfonds, aber auch der Welthandelsorganisation
und nicht zuletzt der Vereinten Nationen. Wir haben erfahren, dass
innere und äußere Sicherheit nirgends auf der Welt mehr
voneinander zu trennen sind, aber ebenso wenig können wir innere
und äußere Entwicklung voneinander trennen. Der bekannte
Satz "Global denken - lokal handeln" ist ja richtig, und
immer geht es dabei um den Zusammenhang von nationaler Politik und
internationaler Zusammenarbeit.
Vor diesem Hintergrund ist es wahr, dass Deutschland als einziger
Staat der Welt die Integration zweier Staaten derselben Nation in
einen gemeinsamen Staat geschafft hat. Es ist auch wahr, dass dies
gelingen konnte, obwohl einer der beiden Staaten, nämlich die
frühere DDR, durch ein zentral verwaltetes Wirtschaftssystem
schlicht bankrott war.
Das sage ich insbesondere den nicht-deutschen Teilnehmern des Forums:
Wir sind sehr stolz darauf, dass wir die Kraft haben entwickeln
können, das zu verwirklichen, nicht zuletzt auch deswegen,
weil es viele - auch internationale - Partner und Wettbewerber gegeben
hat, die gesagt haben: "Dies zu leisten wird eine so gewaltige
Kraftanstrengung sein, dass die Deutschen als Wettbewerber auf vielen
internationalen Märkten schwächer werden oder gar ganz
ausfallen werden". Wenn man heute Bilanz zieht und das fair
und aufrichtig tut, dann stellt man fest, dass das Gegenteil dessen
eingetreten ist: Die deutsche Wirtschaft verstärkt ihre Marktanteile
auf den internationalen Märkten und ist heute - was ihre Wettbewerbsfähigkeit
angeht - ungeachtet der gewaltigen Kraftanstrengung, die wir zur
Integration Deutschlands haben leisten müssen, stärker
als jemals zuvor.
Mir liegt daran, diese gewaltige Leistung, die die Kraft der deutschen
Wirtschaft deutlich macht, zu unterstreichen, weil ich schon glaube,
dass es wenige Länder in der Welt gibt, die eine solche Integrationsleistung
aufzubringen im Stande gewesen wären und vor allen Dingen,
deren Wirtschaft eine solche Integrationsleistung zu leisten im
Stande gewesen wäre.
Übrigens ist uns diese Integrationsleistung gelungen, ohne
die europäischen Stabilitätskriterien, die wir in Europa
zur Einführung der gemeinsamen Währung verabredet haben,
zu verletzen, auch wenn das gelegentlich in bestimmten Bürokratien
anders gesehen wird. Wir haben - trotz dieser gewaltigen Belastung
- die Verschuldung im Staatshaushalt nicht weiter erhöht, sondern
mit einer konsequenten Konsolidierung begonnen.
Mir liegt daran, deutlich zu machen, dass sich Deutschland in den
vergangenen drei Jahren noch weit darüber hinaus verändert
hat. Wir standen vor der enormen Aufgabe - vor dem Hintergrund der
Herstellung nicht nur der erfolgten staatlichen Einheit, sondern
der wirtschaftlichen und auch sozialen Einheit -, den Anschluss
an die Veränderungen in der Welt, die mit dem Begriff Globalisierung
beschrieben werden, nicht zu verpassen, sondern im Gegenteil vorne
weg zu sein bei der Reaktion auf die veränderten Bedingungen
an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft. Wir hatten
also gleichzeitig die gewaltige Aufgabe der gesellschaftlichen und
auch der politischen Modernisierung vor uns, und dies nach außen
und nach innen.
Mir liegt daran, dass vor einem internationalen Forum einmal deutlich
wird, wie weit wir mit den Traditionen der alten Bundesrepublik
in der Außen- und Sicherheitspolitik gebrochen haben. Eine
der - durchaus guten - Traditionen vor dem Hintergrund der Ereignisse
des Zweiten Weltkrieges und des Faschismus in Deutschland war, eine
Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die auf die Teilnahme
an militärischen Interventionen verzichtete. Das war gleichsam
ein Stück Konsens in der alten Bundesrepublik, die man etwas
liebevoll als "Bonner Republik" bezeichnet hat.
Die Veränderungen in der Welt haben uns dazu gezwungen, über
diese Frage neu nachzudenken. Der Hinweis, als ein geteiltes Land
nicht volle Verantwortung auch im internationalen Maßstab
übernehmen zu können, stand uns nicht mehr zur Verfügung.
Wir waren glücklich darüber. Als Folge dessen hatten wir
Außen- und Sicherheitspolitik zu verändern; denn unsere
Partner in Europa, aber auch überall in der Welt erwarteten
Solidarität in einem nicht eingeschränkten Sinne und erwarteten
- als Ultima Ratio gewiss, aber ohne Einschränkungen - auch
Teilnahme an gemeinsamer militärischer Intervention.
Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, welches Maß an Veränderung
in der operativen Politik damit möglich geworden ist, aber
auch, welches Maß an Veränderung im Bewusstsein des Volkes
zugleich Voraussetzung und Konsequenz dessen gewesen ist. Wir haben
das mit unseren Partnern geleistet - allen voran zusammen mit unseren
französischen Partnern -, an bestimmten Stationen der Außen-
und Sicherheitspolitik: im Kosovo, später in Mazedonien und
jetzt auch in Afghanistan im Rahmen der Vereinten Nationen, aber
auch durch unsere Bereitschaft, aktiv an "Enduring Freedom"
und damit an der militärischen Bekämpfung des Terrors
teilzunehmen. Das war gleichsam der außen- und sicherheitspolitische
Aspekt der Reaktion und des Sich-Einstellens auf veränderte
Bedingungen in der Welt.
Aber wir haben dem Zwang zu mehr Internationalität, die die
richtige Antwort auf die Globalisierung ist, auch in der nationalen
Politik Rechnung getragen, und zwar sowohl in der Politik, die sich
auf die ökonomische Basis unserer Gesellschaft bezieht, als
auch in dem, was man kulturellen oder gesellschaftlichen Überbau
nennt. Auch hier - damit es nicht zu abstrakt wird - einige Beispiele:
Wir haben eine Steuerreform verwirklicht - insbesondere eine Unternehmensteuerreform
-, die Deutschland zu einem unerhört attraktiven Platz für
Investitionen aller Art macht, und zwar sowohl für Finanzinvestitionen
als auch für Investitionen in die gewerbliche Wirtschaft.
Wir haben damit begonnen - nicht zuletzt als Reaktion auf die Veränderungen
der Alterspyramide in unserer Gesellschaft -, die sozialen Sicherungssysteme
in Deutschland zu verändern, sie gleichsam vom Kopf auf die
Füße zu stellen, als Konsequenz veränderter ökonomischer
Bedingungen, aber auch als Konsequenz veränderter Bedingungen
im Altersaufbau unserer Gesellschaft. Neben die tradierte Form der
Alterssicherung - durch Beiträge der arbeitenden Menschen und
der Unternehmen in Deutschland - haben wir das Prinzip der Kapitaldeckung
gesetzt und damit zweierlei geleistet: Zum einen ein Stück
größere Sicherheit für diejenigen, die älter
sind, zum anderen aber - genauso notwendig und entschieden - verstärkte
Möglichkeiten, einen Markt zu schaffen, der sich privat mit
den Fragen der Alterssicherung befasst. Dieser Markt ist entstanden,
und er wächst in einem atemberaubenden Tempo.
Ich denke, beide Beispiele zeigen, dass wir im internationalen Maßstab
im Inneren unseres Landes dabei sind, uns in sehr schneller Folge
auf die Veränderungen durch die Globalisierung einzustellen.
Ich habe aber auch darauf hingewiesen, dass wir Gleiches geleistet
haben und leisten werden bei dem, was man gesellschaftlichen Überbau
nennt. Auch hier geht es um einen Zuwachs an Internationalität.
So haben wir ein Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt und
sind dabei, Einwanderungsregelungen zu schaffen, die deutlich machen,
dass sich Deutschland als ein offenes Land begreift, als ein Land,
das attraktiv sein will für die besten Köpfe der Welt
und ihnen Möglichkeiten des Forschens und des Arbeitens, aber
natürlich auch Möglichkeiten für Investitionen geben
will. Die so genannte Green-Card-Regelung, die wir eingeführt
haben, ist nur ein Aspekt dieser notwendigen und wichtigen Veränderung.
Wir haben uns in dem Prozess, der jetzt folgt, weiter vorgenommen,
sowohl das Bildungssystem - das in sich durchaus gerecht ist, aber
effizienter gemacht werden muss - als auch die Frage der Qualifizierung
von Menschen, deren Qualifikation durch den wirtschaftlichen Fortschritt
entwertet worden ist, in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen.
Diese Beispiele mögen zeigen, dass wir uns in ökonomischen
und gesellschaftspolitischen Fragen als ein Land begreifen, dessen
Antwort auf Globalisierung "mehr Internationalität"
heißt und dessen Politik auf mehr internationale Zusammenarbeit
gerichtet ist und gerichtet bleiben wird.
Einen weiteren Aspekt, der dazu gehört, möchte ich gerne
- zum Schluss meiner Ausführungen, auf deren Diskussion ich
mich freue - nennen: Wenn man sich fragt, was in Europa die richtige
Antwort auf die Veränderungen an der ökonomischen Basis
in der Welt - also auf die Globalisierung - ist, dann muss die Antwort
aus unserer Sicht heißen: "Dieses Europa muss sich erweitern,
und zugleich muss es vertieft werden". Anders ausgedrückt:
"Europa" und "mehr Europa" sind unsere Antworten
auf die Herausforderung der Globalisierung. Hier liegt der Grund
dafür, dass wir mit unseren Partnern zusammen eine Erweiterung
Europas unterstützen; nicht nur, um Märkte in Osteuropa
verfügbarer zu machen, sondern, weil wir damit die Vision verfolgen,
Europa - und zwar das ganze Europa - auf Dauer zu einem Ort wirtschaftlicher
Prosperität und vor allen Dingen dauerhaften Friedens zu machen.
Das geht eben nur durch die Erweiterung einerseits, und, um dieses
erweiterte Europa politisch führbar zu halten, durch mehr -
und nicht weniger - Integration andererseits. Mir liegt daran zu
verdeutlichen, dass nach unserer festen Überzeugung die europäische
Perspektive nicht ein Modell ist, das andere blind übernehmen
könnten, sondern sie unsere spezifische Antwort auf die Herausforderungen
ist, die mit der Globalisierung verbunden sind.
Ein Letztes ist mir in diesem Zusammenhang noch wichtig. Mir geht
es darum, dass wir aus dem Fanal, mit dem das 21. Jahrhundert begonnen
hat - ich habe über den 11. September geredet -, die richtige
Konsequenz ziehen, nämlich die, zu mehr internationaler Zusammenarbeit
zu kommen, weil wir wissen, dass gemeinsames internationales Handeln
vor dem Hintergrund der immer enger werdenden Verflechtungen unserer
Volkswirtschaften wichtiger denn je ist, und weil wir wissen, dass
uns über die wirtschaftliche Zusammenarbeit viel mehr miteinander
verbindet, als uns gelegentlich im täglichen Handeln bewusst
wird.
Was ich mir wünsche und was, glaube ich, auf diesem Forum immer
wieder deutlich wird, ist, dass ein so umfassend angelegter Sicherheitsbegriff,
der Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammenbringt, die
richtige Antwort auf die Herausforderungen ist. Was ich Ihnen und
uns allen wünsche, ist ein erfolgreiches Jahr 2002, nicht nur
im wirtschaftlichen Sinne, sondern auch im Sinne der friedensstiftenden
Idee, die zu stärken wir uns alle hier miteinander versammelt
haben.
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