Zeitzeugen - New Yorker
New York bezeichnet sich selbst als die Hauptstadt der Welt,
weil wir die vielfältigste Stadt der Welt sind. Der Geist der
Einheit inmitten unserer Vielfalt war nie stärker.
Bürgermeister Rudolph Giuliani, Rede vor der UN-Generalversammlung
zur Bekämpfung des Terrorismus. 1. Oktober 2001.
Gegen 8.46 Uhr am 11. September, der zufällig auch mein
Geburtstag ist, befand ich mich im Control Room des Chelsea TV-Studios
an der 26. Straße, als die erste
der beiden Passagiermaschinen in den nördlichen der beiden
Türme des World Trade Center einschlug. Drei Minuten später
fuhr ich mitten in einem Konvoi von rasenden
Rettungsfahrzeugen und Polizeiautos die Seventh Avenue zum World
Trade Center hinunter... Gerade als ich aus dem Wagen stieg, hörte
ich ein dumpfes Grollen und
einen ohrenbetäubenden Schlag. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich
nicht, dass in diesem Moment die Maschine des Flugs Nr. 175 in den
anderen Turm des World Trade
Center gerast war... Wir richteten unsere Kamera auf die Feuerwehrmänner,
die ins Ungewisse rannten. Plötzlich schrien einige Polizisten
und Feuerwehrleute und deuteten
nach oben der südliche Turm des World Trade Center begann
einzustürzen. Mein Kameramann hielt die Kamera nach oben. Weg
hier! brüllten die Feuerwehrleute. Wir rannten alle um
unser Leben. Der Turm sank in sich zusammen. Mehrere Polizisten
und mein Kameramann stürzten zu Boden. Zwei FBI-Agenten und
ich halfen ihnen wieder auf die Beine. Asche regnete vom Himmel.
Es war unmöglich, vor den herumfliegenden Trümmern wegzulaufen.
Deshalb rannten wir die Stufen der alten St. Peter's Church in der
Barclay Street hinauf. Ungefähr ein Dutzend Leute schafften
es bis in die Kirche. Überall weiße Asche. Die kleine
Kirche erbebte unter der Druckwelle, als der Turm weiter in sich
zusammensank, und füllte sich mit dickem, weißem Staub,
der uns den Atem nahm. Irgendwie schaffte ich es an diesem Morgen,
einige Berichte aus Telefonzellen in der Umgebung des World Trade
Center durchzugeben... Es war mit Sicherheit die schwierigste Geschichte,
über die ich je berichtete. Ich musste distanziert bleiben
und hatte doch über so entsetzliche Dinge zu informieren. Wenn
sich die Ereignisse überschlagen, bleibt uns Journalisten kaum
Zeit, darüber nachzudenken, was wir berichten. Der 11. September
war der schrecklichste Tag der neueren amerikanischen Geschichte.
Ich denke, es wird Monate dauern, ehe wir wirklich begreifen, welche
emotionalen Wunden das, was wir gehört und gesehen haben, geschlagen
hat. Und ich persönlich werde meinen Geburtstag am 11. September
nie mehr so feiern wollen wie früher, nachdem ich miterlebt
habe, wie tausende von unschuldigen Menschen an
diesem Tag ihr Leben lassen mussten.
Frank Ucciardo, UPN 9 News, New York. Journalismusstipendiat
der Rias Berlin Commission, 1996.
Ich saß an meinem Schreibtisch in der New Yorker Börse
und stellte eine Wirtschaftsreportage für das deutsche Fernsehen
zusammen, als ich eine E-Mail bekam: World Trade Center in
Flammen. Sofort schaltete ich den Fernseher ein und sah nur
Flammen und Rauch. Ich nahm meine Jacke und rannte hinaus auf die
Wall Street. Es war etwa 9 Uhr morgens. Die Luft war bereits rauchgeschwängert.
Überall liefen die Menschen zusammen. Ich versuchte, wieder
in das Börsengebäude zurückzukehren, aber es wurde
schon evakuiert. Also machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich
wohne gleich um die Ecke. Von dort berichtete ich telefonisch nach
Deutschland über die Ereignisse. Kurz darauf drängten
mich Polizisten und Soldaten, auch dieses Gebäude zu verlassen.
Ich ging ohne zu ahnen, dass ich eine Woche lang nicht mehr
zurückkehren könnte. Die Polizei hatte die gesamte Südspitze
von Manhattan evakuiert und abgeriegelt. Ich kam für diese
Zeit bei Kollegen unter und musste mir Kleidung ausborgen, da ich
absolut nichts aus meiner Wohnung mitgenommen hatte.
Michael Storfner, Bloomberg TV, New York. Journalismusstipendiat
der Rias Berlin Commission, 1998.
Für Richard Schmierer begann der 11. September mit einer
Autofahrt ins State Department. Normalerweise hat der Gesandte-Botschaftsrat
für öffentliche Angelegenheiten seinen Schreibtisch in
Berlin, aber an diesem Tag hatte er dienstlich in Washington zu
tun. Von dem ersten Anschlag auf das World Trade Center hörte
er, als er auf den Park-platz fuhr. Im Außenministerium war
Schmierer zu einer Besprechung verabredet, aber daran war nicht
mehr zu denken... ,Alle klebten vor den Fernsehern. Uns war klar,
dass es ein Terroranschlag war. Wir dachten, sie haben zwei Flugzeuge,
und das World Trade Center sei ihr einziges Ziel, erzählt
Schmierer. Um kurz vor 10 Uhr wurde das Außenministerium evakuiert.
,Als das Flugzeug ins Pentagon raste, war uns klar: Das hat eine
andere Dimension...
Der Tagesspiegel, 18. September 2001.
Undenkbar, Worte zu finden. Undenkbar, Empfindungen auszudrücken.
Immer noch Benommenheit. Während ich diese Zeilen schreibe
am Tag Eins nach den Terroranschlägen ist der
Blick aus meinem Bürofenster fast normal. Die Sonne scheint
warm, der Himmel ist strahlend blau. Die Sirenen der Rettungswagen
heulen, aber das tun sie immer in New York. Im Süden hängt
eine Nebelbank über der Stadt. Sie passt irgendwie nicht zu
dem sonnigen Tag. Aber sie wirkt nicht bedrohlich. Kaum Verkehr.
Fast wie ein ruhiger Sonntagmorgen in Manhattan allerdings
ist heute Mittwoch, und wir alle wollen aufwachen aus diesem Albtraum:
Rauchspeiende Gebäude, Stümpfe, die wie Vulkane Rauch
und Gesteinsbrocken spucken, Körper, die wie Feuerräder
verglühen...
Peter Givler, Association of American University Publishers (AAUP).
The Exchange, 12. September 2001. Frankfurter Buchmesse, Oktober
2001.
... Der 11. September 2001 war in vielen New Yorker Schulen
ein Tag der stillen Tapferkeit. Als an jenem Morgen die Terroranschläge
auf das World Trade Center die Welt erschütterten, mussten
inmitten des Chaos und der Verwirrung mehrere Schulen in der Nähe
evakuiert werden. Aber es gab weder Panik noch Hysterie. Schulklassen
folgten geschlossen viele der Kinder Hand in Hand
ruhig und gesittet ihren Lehrern, von denen einige selbst gerade
erst zwanzig Jahre alt waren. Zwischen heulenden Sirenen, rasenden
Ambulanzfahrzeugen und herumfliegenden Trümmern gingen sie
mehrere Kilometer, bis sie in Sicherheit waren. Eine Lehrerin erzählte
später, dass sich einer ihrer Schützlinge zu dem brennenden
World Trade Center umgedreht und dann zu ihr gesagt habe: Da
brennen ja die Vögel! Wir können nur dankbar dafür
sein, dass diese Kinder das entsetzliche Geschehen nicht voll verstanden
haben es waren Menschen, die aus einem brennenden Wolkenkratzer
in den Tod sprangen...
Harold Levy, Leiter der Schulbehörde von New York City.
Fellow der American Academy in Berlin im November 2001.
Heute ist der erste Tag, an dem ich einmal an etwas anderes
denken kann als an das, was hier in New York passiert ist. Wir wurden
vorübergehend aus unserem Haus evakuiert, aber jetzt ist die
Stromversorgung wiederhergestellt und wir dürfen in unsere
Wohnungen zurück. Wir wohnen etwa zehn Straßen von den
Türmen des World Trade Center entfernt, aber dazwischen stehen
viele hohe Gebäude, so dass es in unserer Gegend keine Trümmerberge
gibt. Die Menschen auf der Straße sehen verstört und
verängstigt aus. An jedem Platz, in jedem Park gibt es provisorische
Mahnmale mit Kerzen, Postern von Vermissten, letzten Grüßen
an verlorene Freunde und verwelkenden Blumen. Es ist sehr traurig.
Wir können uns glücklich schätzen, dass wir keine
Freunde verloren haben. Wie durch ein Wunder werden auch in der
Schule unserer Tochter keine Eltern vermisst. Es gibt überall
viele berührende Gesten und Taten. Das tröstet. Die Menschen
hier sind zutiefst erschüttert, und das wird wohl noch eine
Weile so bleiben... Wir können nur hoffen, dass dies unsere
Welt enger zusammenschweißt und die sinnlose Gewalt so doch
noch etwas Gutes bewirkt.
Andrea Barnet, Autorin von Crazy New York vor einer
Lesereise durch Deutschland (Berlin, Frankfurt u.a.) im Oktober
2001.
Foto:
Rauch verhüllt weiterhin Lower Manhattan einen Tag nach
dem Einsturz des World Trade Center. Links ist die Freiheitsstatue
zu sehen. (AP/WideWorld Photos Dan Loh)
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